Die Tochter des Minos, zuvor von euripideischem Edelmut oder sexbesessen wie bei Seneca, wurde am Neujahrstag des Jahres 1677 von Jean Racine mit der skandalisierten Uraufführung seines Meisterwerkes Phädra in die frühbürgerliche Gegenwart des 17. Jahrhunderts geholt. Zunächst allerdings noch im Gefängnis einer gefühls- und gedankenschwangeren Binnenwelt. Erst als Phädra der Amme Önone von ihrer Sucht nach Hippolytos, ihrem Stiefsohn, den sie mit Theseus hat, erzählt, bricht der Damm in die Außenwelt: Die Worte brechen den Aktionen Bahn und entfesseln den Gang der Tragödie.

Die Sprache - in der kongenialen Übersetzung von Simone Werle - ist also Motor wie Transporteur des dramatischen Geschehens. Ihre Ausdifferenzierung legt die von Racine neu formulierte Bandbreite individueller Gefühlswelten bloß. Sie ist das Material, aus dem Gerhard Willert eine eindrucksvolle, dichte Komposition von Leidenschaften und zwischenmenschlichen Beziehungen formte, die der Kontrolle der Protagonisten entgleiten, ohne dass sie aber an die Macht des Schicksals zurückdelegiert werden.

Vielfältige Nuancen

Die Schauspieler tragen ein Mikro dicht vor dem Mund, das alle Nuancen und nonverbalen Begleitgeräusche nicht nur minutiös offen legt, sondern diese selbst zum aktiven Materialbestandteil macht: eine gnadenlose, in jeder Minute spannende Demaskierung egomanischer, eitler, feiger und machtgeiler Beziehungsgeflechte und deshalb mitten auch in unserer Zeit.

Die Sprache wird artifiziell rhythmisiert, in der Erzählung vom grausamen Tod des Hippolytos mittels Verzögerungseffekten sogar fugiert und gemeinsam mit den live von Thomas Kaser geblasenen Klängen der Posaune bzw. eines Schlauches zu einer phänomenalen Ausdruckspartitur verwoben. Einer Partitur, in der der extensive archaische Grundduktus immer wieder gebrochen und ironisiert wird.

Dies funktioniert perfekt, weil Sabine Martin eine fulminante Phädra ist, von Olga Strub (Önone), Stefan Matousch (Theseus), Janko Kahle (Hippolytos) und Bettina Buchholz (Arikia) brillante Sprach- und Schauspielkunst geboten wird. Und weil die in Brauntönen gehaltene Bühne von Florian Parbs mit einem transparenten Podest in der Mitte ein sehr funktionaler, auf das Wesentliche hinführender Ort ist, weil die Kostüme von Alexandra Pitz und die Lichtdramaturgie ebenso stimmen wie die Musik von Christoph Coburger.

Eine denkwürdige Inszenierung, der gleichsam mit einem Schlag die Modernisierung sowohl der Antike als auch der französischen Klassik ohne halsbrecherische Interpretationskapriolen gelingt, sondern ausschließlich mit den Mitteln der Kunst. (Reinhard Kannonier, DER STANDARD Printausgabe vom 23.3.2001)