Semmering - Das Theater ist - vorsichtig ausgedrückt - in desolatem Zustand. Von den Wänden des Semmeringer Südbahnhotels blättert der Putz, die Böden knarzen und die Treppen ächzen. Der filigrane Hotel-Koloss aus längst vergangenen Tagen ist ein monströses Abbruchtheater, ein großes Untergangstheater. Leben ist in ihm nur mehr in Schwundstufen vorhanden. Wohl auch deshalb haben die Festspiele Reichenau das Südbahnhotel zu einem ihrer wichtigsten Protagonisten erkoren. Die bürgerlichen Endzeitstoffe, mit denen "die Loidolts" manchen Spätsommer versüßen, sind hier gut aufgehoben. Im letzten Jahr war es das Kraussche Marstheater Die letzten Tage der Menschheit , in diesem Sommer ist es Thomas Manns Prosawerk Der Zauberberg . Ein gewichtiger Findling aus dem spätbürgerlichen Bildungskanon, ein intellektuell bestickter Abgesang auf eine Epoche, die so weit entfernt scheint wie das Wiener Becken von der Terrasse des maroden Semmeringer Prachthotels. Hermann Beil hat den Wälzer in eine Drei-Stunden-Fassung gebracht.

Die Entfernungen haben er und Regisseurin Vera Sturm dabei schön beibehalten. In ihrem Theater-Schnelldurchlauf wandelt Hauptfigur Hans Castorp durch die Stationen seines Tuberkulose-Leidens, als wär's ein später Bildungsweg: Welche Figuren aus Thomas Manns "Zauberberg", werte Schüler, kennen wir? Auftreten dürfen (fast) alle, und sei es - wie der Naphta des Bernd Birkhahn - auch nur für einige Minuten. Verziert wurde das Reader's-Digest-Projekt in zwei Hotelsälen lediglich mit dem Märchen Die Schneekönigin. Die erkalteten Herzen bei Hans Christian Andersen sollen wohl auch über Manns Gestalten Auskunft geben.

Dabei ist Tobias Voigt als Castorp ein milchiger, durchaus talentierter Jungspunt, dessen Temperatur aber über drei Stunden nicht recht von der Stelle will. 37,6 misst er auf dem Fieberthermometer, und es wäre an Vera Sturm gelegen, die Fieberkurve zu senken oder zu erhöhen. Doch die Arbeit mit den Schauspielern (Ausnahme: André Pohl) ist an diesem Abend der Regisseurin Sache nicht. Sie siedelt ihr Unternehmen irgendwo zwischen kreidenem Aufsagetheater und unter Geigenklängen (Claus Riedl) süß dahinsiechendem Stationendrama an. Martin Schwab als Hofrat Behrens und Peter Matic als Settembrini erledigen ihren Job wie eine lästige Pflichterfüllung. Wolfgang Hübsch als Peeperkorn und Babett Arens als Clawdia Chauchat geben Kaffeepflanzer bzw. undurchsichtige Russin als grob geschnitzte Figurinen. Auch Theatergranden weilen schließlich einmal auf Sommerfrische!

Das Südbahnhotel jedenfalls ließ sich von den repräsentationswütigen "Gesellschaften" nicht stören. Das Leben nistet anderswo. (Stephan Hilpold/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9. 7. 2001)