Die Urabstimmung des ÖGB und das geplante Volksbegehren als Chance für eine neue Sozialpolitik - abseits neoliberaler Wende wie auch traditioneller Bevormundungs-strategien.Wer in Zeiten wie diesen das Wort "sozial" noch in den Mund nimmt, meint häufig erklären zu müssen, was darunter zu verstehen ist: nicht die alte Sozialbürokratie, natürlich keine Unterstützung für dreiste Betriebsratskaiser und etwas, das sich an den Eigengesetzlichkeiten von Wettbewerb und Wirtschaftswachstum zu orientieren hat. Wer von "Staat" spricht, sagt meist sehr schnell dazu, dass er nicht übermächtig sein solle, sondern "serviceorientiert", "schlank" und jedenfalls billig. Es scheint, als wäre es den VertreterInnen neoliberaler Politik gelungen, Begriffe, die bisher für gesellschaftlichen Zusammenhalt standen, kaputtzumachen. Tatsächlich arbeiten sie an einem Gesellschaftsmodell, in dem der Staat in einen Überwachungs-und Abwehrapparat umgebaut bzw. auf einige wenige Restfunktionen reduziert werden soll und Sozialpolitik tunlichst durch das Recht der Stärkeren (nicht der Tüchtigeren, wie vielfach fälschlich behauptet wird) plus etwas Almosenverteilung ersetzt zu werden hat. Ausgemauschelt Doch die Politik der letzten Jahrzehnte hat Anteil daran, dass es so weit kommen konnte. In Österreich, wo der faule Kompromiss zur politischen Kunst erklärt wurde, wo einige mächtige Männer in Hinterzimmern ausgemauschelt haben, was uns dann als demokratische Entscheidung präsentiert wurde, und wo spätestens seit den Achtzigerjahren sehr wenig dafür getan wurde, dass sich Menschen individuell durch Staat und Sozialpolitik gestärkt fühlen konnten, reichen nun sogar Schüssel und Co., um die Worte "sozial" und "Staat" negativ zu besetzen. Wir aber haben die Wahl - zum Glück nicht nur zwischen dem neoliberalen Konzept und dem alten, patriarchalen Bevormundungssystem: Wir können uns auch für einen Weg entscheiden, der staatliche Sozialpolitik als Bedingung dafür betrachtet, dass alle Menschen möglichst selbstbestimmt leben und ihre Fähigkeiten umsetzen können. Die Urabstimmung des ÖGB ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung - vorausgesetzt, alle Spitzenfunktionäre erkennen, dass es nicht um die Macht des eigenen Klüngels, sondern um mehr Macht für Arbeitnehmer/innen geht. Gearbeitet wird derzeit aber auch an der Vorbereitung des "Volksbegehren Sozialstaat Österreich". Die Idee dazu entstand im Bewusstsein, dass nur eine breite Bewegung von unten der grassierenden Politik für Eliten etwas entgegensetzen und sagen kann, welchen Staat und welche Sozialpolitik sie in Zukunft will. Gefordert wird eine Verfassungsbestimmung, die von Legislative und Exekutive nicht bloß Maßnahmen zur sozialen Sicherheit und Chancengleichheit verlangt, sondern auch eine so genannte "Sozialverträglichkeitsprüfung" - das heißt: Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der man bisher bei der Beschlussfassung für ein Gesetz auf dessen finanzielle Folgen geachtet hat, soll künftig auch untersucht werden, wie es sich auf Menschen auswirkt: auf ihre soziale Lage, auf die Gleichstellung von Frauen und Männern, auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Festgeschrieben werden soll zudem, dass für Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit und Armut durch öffentlich-rechtliche Sicherungssysteme vorgesorgt wird. Draufgezahlt Privatisierung in solchen Bereichen bedeutet, dass Risiken nicht mehr durch sozialpolitischen Ausgleich bewältigt, sondern versicherungsmathematisch berechnet werden. Der Effekt ist klar: Die mit dem größten Risiko zahlen am meisten drauf. Sowohl bei der sozialen Absicherung als auch bei der Sicherung von Chancengleichheit geht es letztlich darum: Wohlhabende Menschen können sich fast alles kaufen. Eine hohe Zusatzpension, den besten Primararzt, private Kinderbetreuung, gute Schulen, einen Platz an einer Eliteuniversität. Die meisten Menschen sind jedoch auf eine funktionierende staatliche Infrastruktur angewiesen, um ihre Fähigkeiten entwickeln und unter Beweis stellen zu können, um aber auch sicher sein zu können, dass sie (über)leben können, wenn es ihnen einmal schlecht geht. Abgefedert KritikerInnen dieses neuen erweiterten Sozialstaatmodells kontern gerne mit der Frage nach seiner Finanzierbarkeit. Sie verkennen aber, dass es zuerst um die Entscheidung für die grundsätzliche Ausrichtung des Staates zu gehen hat und dann um die entsprechende Zuordnung der Finanzmittel. Im neoliberalen System zahlt der/die Arme fast nichts ein und bekommt dafür fast nichts. Der/die Reiche zahlt auch fast nichts ein, hat aber selbst eine ganze Menge. Dieser Staat ist, rechnet man rein betriebswirtschaftlich, immer "kostengünstiger". Ein neuer Sozialstaat ist "teurer". Vereinfacht gesagt sollten die, die mehr haben, auch mehr zu seiner Finanzierung beitragen. Dafür ist dann auch etwas da, das verteilt werden kann, um individuelle Risiken abzufedern. Ganz abgesehen von hehren Zielen wie sozialem Frieden und Chancengleichheit: Volkswirtschaftlich gerechnet, ist dieses Staatsmodell selbstverständlich wesentlich lukrativer. Eva Rossmann - DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 3.09.2001