In den Sockel der Freiheitsstatue vor New York ist ein Sonett der Dichterin Emma Lazarus mit dem Titel "Der neue Koloss" eingemeißelt. "Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free", lautet der Beginn des 1883 geschriebenen Gedichts. Die von Lazarus in Worte gefasste Sehnsucht der Müden, Armen und dicht gedrängten Massen nach Freiheit sind im Lauf der Jahre zur poetischen Kurzformel dessen geworden, was die Vereinigten Staaten von Amerika im Kern ausmacht: das Versprechen, sich nach Freiheit nicht mehr sehnen zu müssen, sondern sie leben zu können. Ihm sind Millionen Menschen aus allen Ländern gefolgt.Viele von ihnen wurden durch Terror und Gewalt dazu gezwungen, nicht wenige sind aus freien Stücken dem Freiheitsversprechen gefolgt. Es wurde eingelöst in Form einer Gesellschaft, die sich eine Verfassung gegeben hat, in der die Grundrechte des Individuums als kostbarstes Gut gelten. Das ist mitunter auf Kosten der Gemeinschaft gegangen und drückt sich nicht zuletzt im irrigen Glauben an die "Marke Ich" aus. Bei aller Einschränkung aber ist festzuhalten, dass die überragende Bedeutung der Grund- und Freiheitsrechte sowie deren für alle nachvollziehbare Absicherung letztendlich den demokratischen Rechtsstaat ausmachen. Nicht nur in den USA, sondern in der ganzen Welt. Diese Rechte sind mit den Attacken auf die Vereinigten Staaten in Gefahr. Schon ist der Ruf nach Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte laut vernehmbar. Die Kampfparole lautet "Ordnung schaffen". Sie wird erhoben von den übrig gebliebenen Kämpfern des Kalten Kriegs, etlichen Militärs und den so genannten Experten der Sicherheit. Ihr Ruf nach "Ordnung" ertönt umso lauter, je sichtbarer das eigene Versagen und die Ohnmacht angesichts der Terrorattacken wird. Die Bereitschaft, diesem Ruf in Form einer allumfassenden Überwachung des Einzelnen und einem Aussetzen oder zumindest einer Beschneidung der Grundfreiheiten Folge zu leisten, ist im Angesicht des Terrors groß und nachvollziehbar. Handelt es sich dabei doch um den Versuch, jene Illusion der Sicherheit wiederherzustellen, die noch zu Beginn dieser Woche in einem Teil der Welt herrschendes Grundgefühl war. Doch das war und ist Spiegelfechterei. Diese Sicherheit hat es auch vor dem 11. September 2001 und den Bildern der Zerstörung, die er gebracht hat, nicht gegeben. Terror und Zerstörung haben einen ebenso großen Teil der Welt beherrscht wie jenen, in dem die Idee vorherrschte, sie sei heil und sicher. Zerstört wurde am Dienstag die Illusion von der einfach zu erklärenden Welt. Die einfach klingenden Forderungen nach einer Einschränkung oder Sistierung der Grund- und Freiheitsrechte ist die Fortsetzung dieser Illusion. Damit wird suggeriert, dass mehr Sicherheit nur durch weniger Freiheit herzustellen ist. Stimmt die Gleichung? Oder könnte es nicht auch so sein, dass all diese Maßnahmen nur ein Ablenkungsmanöver sind, um alte Illusionen durch neue zu ersetzten? (DER STANDARD, Printausgabe 15./16.9.2001)