Der Schlusspunkt desNestroy-Gedenkjahresals Höhepunkt: ImVolkstheaterüberraschte MichaelSchottenberg mit einerernsten Inszenierungdes "Talismans", dessen Couplets vonSabina Hank neuvertont wurden.
von Richard Reichensperger
Wien - Ein Jahr lang feierteÖsterreich heuer Nestroys200.Geburtstag mit vielenschlechten Inszenierungen zuTode. Jetzt, gegen Jahresende,wird Johann Nepomuk aberendlich neu zum Leben erweckt: Der Talisman amVolkstheater in MichaelSchottenbergs Regie ist diebeste Aufführung seit langem,und das liegt primär an derMusik von Sabina Hank. Jazz wird den Couplets von1840 unterlegt - und damitvon vornherein jede NestroyRoutine unterbunden: Stattder vertrauten Harmonien des Theatermusikers WenzelMüller die Modulationen undSynkopen eines Saxofons,und gleich rückt alles in dieNähe der Dreigroschenoper.Was passt, denn schließlichhat schon Nestroy hier eineGroßstadtbanditengeschichte(die Banditen, das sind die Mitglieder der feinen Gesellschaft) aufs Papier geworfen. Die hohe graue Hausmauerim Bühnenbild Hans Kudlichs(es ist, wie die Karrieren imStück, leicht kippbar - ein Toröffnet sich dann vom Vorhofder Macht ins Innere desSchlosses) signalisiert sofortdie Stadt. Zu Recht, denn dieProbleme, die Nestroy in seinenoch recht harmlose PariserVaudeville-Vorlage einbaute,sind die Probleme der entstehenden Großstadt: Entfremdung, Feindbilder, sozialeUmschichtungsprozesse. Vor allem aber die Überbewertung des Scheins, da dieTünche zur Voraussetzung fürschnelle Karrieren wird. DiePerücke, der Titus Feuerfuchsseinen Aufstieg verdankt, istalso nicht bloß ein Zeichen für"Vorurteil", sondern für die imTauschprozess permanentverlangte Täuschung: Tauschwert geht vor Gebrauchswert,äußerer Wert vor zerfallendem"inneren". Wenn nun hier Maria Billüber die Benachteiligung desweiblichen Geschlechts in derWarenwirtschaft singt, soklingt sie überraschend grimmig und aufgerauht: Auf denTitus kommt hier keineSchwärmerin, sondern eineRäuberbraut zu, deren Eröffnungssong an den Stückanfang gestellt wurde, um ihrdas gleiche Gewicht zu verleihen wie dem Feuerfuchs. Beet- und Bettknecht

Das hat dieser Filou, dersich dank Perücke jedem neuen Anpassungsdruck in seinem Aufstieg vom Gärtnergehilfen zum Sekretär derPoesie-Zicke Frau von Cyressenburg (Maria Urban) schnellanpasst, auch bitter nötig. (Derausgejätete Beet- und Bettknecht der Gärtnerin, Plutzerkern, könnte das mit seinerRohheit allein nicht schaffen,obwohl er von Karl FerdinandKratzl gespielt wird.) Diesen Feuerfuchs mit ToniBöhm zu besetzen ist mutigund klug zugleich, weil es je des Rollenklischee unterwandert: Böhm ist weder jungnoch schön (Pardon), nochquirlig. Desto besser kann eraber in leicht melancholischem Duktus die abstraktenMechanismen freilegen: DieHülle der Perücke bewirkt alles, wobei "alles" hier auchden Sexualtausch meint. Auch die Männer sind beiMichael Schottenberg tief ins"Eros für Euro"-Geschäft verwickelt und werden nach ihrem Äußeren taxiert: intelligent z.B., wie die schwierigePferdeszene im ersten Akt (derMarquis stürzt, wird von Titusgerettet und schenkt ihm diePerücke) transformiert wird ineine Verjagungsszene, wodem Marquis (Wolf Dähne)vom Kammerfräulein (Johanna Martinz) die Kleider nachgeworfen werden. Auch seinAdamskostüm ist übrigensnicht das schönste (sonstigeKostüme: Erika Navas). Im Übrigen wimmelt es, wieoft bei Nestroy, von Witwen,ausrangiert aus den Prozessenvon Produktion und Reproduktion. Die Regie nimmt denWitwenstand hier ernst undbesetzt die Flora Baumscheermit Erni Mangold. Eigentlichjemand aus der "routinierten"Nestroy-Garde, aber hier istsie anders (und das Publikumdankt es ihr): Es ist schon sehrwitzig, wie verschämt sie ihren vermeintlich künftigenTitus hier nicht anfasst. Sicher könnte in dieser Inszenierung einiges auch nochschärfer gezeigt. Dennoch:Nestroy wird ernst genommen. Das Lachen bleibt imHals stecken: In einer Welt,wo das den Titus und seineNachfolger treibende Karrierekarrusell die Tünche verlangt, erstarrt es zur Maske. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.12. 2001)