Tschechow im multimedialen Raum, im Laboratorium für Textingenieure: Die Revolte gegen das Deklamationstheater wird bei der Uraufführung von Ronald Pohls "Möwensimulator" am Schauspielhaus in Dortmund weitergedacht und -geträumt.
von STANDARD-Mitarbeiter Walter Grünzweig
Dortmund - Im Ruhrgebiet wird die postindustrielle Zukunft Europas simuliert: Kohlengruben werden zu Diskotheken und ehemalige Industrieareale zu Badeseen.

Die Stahlstadt Dortmund ist hierbei das Zentrum. Einer der erfolgreichsten Forschungsverbünde seiner Universität ist "Modellbildung und Simulation", wo Mathematiker und Ingenieure Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Modellierung der Welt untersuchen. Und gegenüber dem Theater steht im Winter der größte Weihnachtsbaum der Welt, bestehend aus hunderten Nadelbäumen, aneinandergeklebt auf einem Stahlgerüst in der Form eines Baums.

Ein guter Ort also für die Uraufführung eines Stückes mit dem Titel Der Möwensimulator. Der Prosatext von STANDARD-Redakteur Ronald Pohl aus dem Jahr 1998 wurde zwar nicht für das Theater geschrieben, schließt jedoch an Tschechows Dichterdrama an und verweist im Untertitel auf Inspirationen durch "motive von heiner müller".

Brecht und seine Nachfolger haben das Theater "verfremdet", es ist jedoch Theater geblieben. Pohls chaotisch anmutende Montage von Zitaten aus der Dramenliteratur ist jedoch ein expressionistischer Schrei (im Stile etwa des jungen J. R. Becher) gegen das "deklamationstheater", wo der "bühnenrealismus das standrecht ausruft". Gleichzeitig simuliert der Text dramatische Möglichkeiten für die Bühne, ohne sie selbst industriell gefertigt zu liefern. Wie in Heiner Müllers Hamletmaschine, auf die sich Der Möwensimulator nicht nur durch seinen technizistischen Titel bezieht, erkennt man hier den im sprachlichen Laboratorium arbeitenden Textingenieur.

Einblendungen

Der Dortmunder Schauspieldirektor Michael Gruner stieß auf Pohls Text bei einer Autorenlesung in Wien, wo der Autor, wie die hiesige Presse entzückt vermerkte, "unüberhörbar der Lauteste" war. Das junge Regieteam steht ihm zwar nahe (Regisseur Philipp Preuss und Bühnenbildnerin Ramallah Au-brecht sind beide Österreicher); die Aufgabe, diesen Text ohne jede Regieanweisungen auf die Bühne zu bringen, war nur schwer zu lösen.

Das Ensemble entschied nach langen Beratungen, eine gekürzte Version von Tschechows Möwe mit Einblendungen von Pohls Text zu adaptieren. Im Nebeneinander von klassischem Theater und lautstarker Kritik daran entsteht ein multimedialer Raum (zum Einsatz kommen u. a. Dias, Megafon und TV). Pohls Text wird zum Vor-Wurf für eine Neuinterpretation von Tschechow, die üblicherweise gedacht, nicht aber auf der Bühne vorgeführt wird.

Wenn Mascha (von Birgit Unterwegner witzig, doch bedrückend im Pulp Fiction-Stil gespielt) ihre bei Tschechow nur verhalten ausgedrückte Liebe zum Dichter Kostja (Pit-Jan Lößer) als tatkräftige Mas- turbation auslebt oder Kostja selbst am Ende des Stückes Amok läuft statt vorlagengemäß und bescheiden sich selbst zu töten, so ist dies Resultat Pohlscher Provokation.

Am besten kann man sich Pohls Text als Produkt aus Kostjas Feder vorstellen, der schon bei Tschechow gegen Traditionalismus in Sprache und Form wütet. Die ödipalen Schreiereien mit seiner Mutter, der erfolgreichen Schauspielerin Irina Arkadina (in jeder Inszenierung von der Grande Dame des Hauses gespielt, so in Dortmund souverän von Barbara Blümel), bieten den besten Anknüpfungspunkt an Pohls wütende Prosaausfälle. Bekam man in Tschechows Stück nur kurze Proben von Kostjas Text, so liefert Pohl sie nun, rund hundert Jahre später, nach.

Dass er dabei nicht nur The- ater, sondern auch Geschichte als totalitaristisch kritisiert, ist durchaus mit Tschechow vereinbar. So wird der Text von Lili Marleen gegen die Melodie der Internationale gesetzt, während eine McDonald's-Fahne geschwenkt wird. Nicht zuletzt das äußerst kreative Bühnenbild, bestehend aus Fensterschnüren, die die Bühne zu mehreren transparenten Räumen machen, und Holzpaletten, die witzige Dandyhaftigkeit von Kostjas Dichterkonkurrent Trigorin (hervorragend besetzt mit Sébastien Jacobi) und die Mischung aus Ironie und Tragik gaben diesem "doppelten" Stück eine post-postmoderne Lockerheit, die vom Dortmunder Publikum mit großer Zufriedenheit quittiert wurde. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21.01. 2002)