Heidi Klum polarisiert regelmäßig auf ProSieben mit
Heidi Klum polarisiert regelmäßig auf ProSieben mit "Germany's Next Topmodel" und hat trotzdem seit Jahren hohe Quoten.
Pro Sieben

Heidi Klum war schon wieder unmöglich zu den Models? Die Klischees in "Emily in Paris" sind wirklich unter jeder Kritik, die Geständnisse von Harry und Meghan verursachen beinahe körperliche Schmerzen? Dreimal Ja. Trotzdem bleiben wir dran und schalten wieder ein, obwohl wir wissen, dass wir uns aufregen. Stirbt Ben Blümel in der peinlichsten aller Passionsgeschichten von RTL einen lächerlichen Tod, so ist er doch nicht allein. Egal ob die Serie so schlecht ist, wie sie ist, wir müssen sie fertigsehen. "Germany's Next Topmodel" drehen wir pünktlich zum Sendetermin auf. "Der Bachelor" wird von seinen Bräuten nicht ohne uns angehimmelt. All diese Sendungen schaffen es, uns aufzuregen und irgendwie trotzdem zu faszinieren. Sie fallen damit in die Kategorie des "Hatewatchings".

Aber was ist das genau? Die Filmwissenschafterin Olivia Poppe erklärt: "Unter Hatewatching verstehe ich eine Medienpraktik, die eine starke negative Wertung des Formats, das man konsumiert, inkludiert." Es ermögliche eine Abgrenzung von und Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, das habe "etwas sehr Genüssliches".

Sozial geächtet

Als besonders geeignete Hassobjekte nennt Poppe Reality-TV: "Sozial sind diese Formate geächtet und mit Vorurteilen behaftet. Reality-TV nutzt diese Vorurteile oft aus, befeuert das Spektakel und bedient den Genuss am 'Fremdschämen'." Poppe nennt Talentshows wie "Deutschland sucht den Superstar" und "Germany's Next Topmodel". Diese Formate würden reißerische Narrationen und skandalöse Inszenierung von Reality-TV bedienen und das mit der Unterhaltung eines Talentwettbewerbs kombinieren: "Im Fall von 'Deutschland sucht den Superstar' sorgt das als peinlich empfundene Scheitern von Kandidatinnen und Kandidaten für mindestens genauso großes Fernsehen wie die gelungensten Darbietungen."

"'Germany's Next Topmodel' ermöglicht einen Rahmen, um die eigenen (eingeübten) misogynen Tropen zu bedienen", sagt Poppe. "Die jungen Frauen 'zicken', 'jammern' und 'eifersüchterln', während Heidi Klum perfekt die Rolle der hartherzigen Karrierefrau einnimmt. Die normschönen Körper werden den Zuschauerinnen und Zuschauern zur Bewertung präsentiert. Kein Format bedient den 'Male Gaze' so gut."

Schambesetztes Reality-TV

Warum aber schaut sich jemand an, was er/sie eigentlich nicht mag? Poppe geht davon aus, dass sich das "Hate" weniger darauf bezieht, dass man etwas nicht mag, sondern mehr darauf, dass man "hasst", dass man es mag: "Die Vorstellung, zu dem Publikum zu gehören, an das sich die sozial verwerflichen Formate richten, ist schambesetzt. Ich glaube, dass diese Scham auch einen starken Klassenaspekt hat, insbesondere bei Reality-TV." Das wenig angesehene "Trash-TV" stehe im Ruf, vor allem Bedürfnisse sozialer Gruppen zu bedienen, die sich davon abheben wollen.

Poppe sieht beim Hatewatching einen Zusammenhang mit den aufkommenden Gefühlen – Genuss, Lüsternheit, Fremdscham, Ekel, Schock: "Wenn ich die Gefühle und Affekte so aufschreibe, kommt mir Linda Williams' Theorie der Body-Genres in den Sinn: Horror, Pornografie und Melodrama sind laut Williams alle drei Genres, die den Körper direkt ansprechen. Man könnte argumentieren, dass Reality-TV als Vorbildgenre des Hatewatchings in gewisser Weise auch ein Body-Genre ist."

Ist den Leuten nicht schade um die Zeit? "Würde Hatewatching keine gute Unterhaltung bieten, würden Leute es nicht tun", sagt Poppe. "Die komplizierten Verstrickungen von Affekten, Schaulust, Werturteilen über Personen/Figuren innerhalb des Formats und des Formats selbst bieten eine sehr intensiv erfahrene Unterhaltung. Hatewatching hat auch eine soziale Komponente: Das Geständnis, etwas zu hatewatchen, führt selten zu sozialer Ächtung. Viel wahrscheinlicher ist es, dass man über die Medienpraktik Hatewatching 'bondet', vielleicht sogar über das gleiche Format."

Kulturelle Phänomene, die offiziell einen niedrigen Status haben und dennoch große Popularität erfahren, sind jahrhundertealt. Das Besondere am Hatewatching: Es betrifft ausschließlich Fernsehen und Streaming. Kein Mensch geht zum Beispiel ins Theater, ins Kino oder ins Museum, um sich vorsätzlich zu ärgern. (Doris Priesching, 28.3.2024)