Ein Kind sitzt allein vor einer leeren Tafel.
"Die Kinder werden alleingelassen", ärgert sich die Klassenlehrerin einer Volksschule in der Brigittenau.
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Schon bevor die Glocke den Unterricht einläutet, wollen die Volksschüler der 4b lernen. Es ist nicht laut, das Stimmengewirr um kurz vor acht Uhr morgens ist konzentriert und wach. Rechenkärtchen sind auf den Tischen verstreut. Additionen mit sechsstelligen Zahlen liegen auf, unter und neben bunten Federpennalen. Ein Schüler nimmt sich gleich mehrere davon, legt seinen Kopf auf einen Arm und übt leise. Ein anderer hält seinem Gegenüber grinsend die Rückseite einer Karte mit der Lösung ins Gesicht. Über dem Eingang des Klassenraums ist ein laminiertes Schild mit bunten Lettern befestigt: "Wir wollen es schön und lustig haben."

In der ersten Stunde löst die Klasse die Rechenaufgaben dann auch gemeinsam. "Wann kommt die Million?", fragt eine Schülerin und wackelt eifrig mit der Hand. "Mach ma ultraschwer!", schießt ein besonders aufgeweckter Bub nach.

Quereinsteiger und Studierende

Zwei Kinder sitzen währenddessen still vor anderen Aufgaben. Alina*, ein schüchternes großes Mädchen, hat einen sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) im Fach Mathematik. Sie rechnet im Zahlenraum hundert. Malek* ist erst seit wenigen Tagen in Österreich. Der zierliche Bub mit den großen Augen lernt das deutsche Alphabet. Während seine Mitschüler im Millionenbereich multiplizieren, malt er Buchstaben nach.

In den 13 Klassen der Volksschule im 20. Wiener Gemeindebezirk fehlen insgesamt vier Lehrkräfte. Obwohl mehrere Lehramtsstudierende im Bachelor und Quereinsteiger die Lücken in der Klassenführung füllen, wird weiterhin nach Verstärkung gesucht. Auch die Direktorin schultert mehr als erlaubt. Sind mehrere Lehrkräfte gleichzeitig krank, ist kein regulärer Unterricht mehr möglich. Laut dem "Schulleitungsbarometer Austria 2024" der Johannes-Kepler-Universität haben rund 45 Prozent der Schulen zu wenig Lehrkräfte, 80 Prozent bezeichnen den Lehrermangel sogar als "eklatant". An Volksschulen ist der Bedarf besonders hoch.

"Mini-Chancen-Index"

Die Schule in der Brigittenau ist das, was man gemeinhin als "Brennpunktschule" kennt. Was dieser verpönte Begriff meint: viele sozial schwächer gestellte Schüler, viele Eltern aus bildungsfernen Schichten, viele Kinder mit Migrationshintergrund. Bewertet man sie nach dem im Nationalen Bildungsbericht angeführten "Index der sozialen Benachteiligung", rangiert die Volksschule auf der vierten – und somit höchsten – Stufe.

Das 2021 von Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) eingeführte Lehrerzuteilungssystem der Stadt Wien sieht in so einem Fall eigentlich mehr Ressourcen vor. In Sarahs Volksschule gibt es diese nicht einmal auf dem Papier. Laut eigenen Angaben habe die Direktorin erst durch ein Telefonat mit dem zuständigen Schulqualitätsmanager (SQM) erfahren, dass ihrer Schule Zusatzstunden zustehen. Auch andere Schulleitungen hätten nichts von ihrer Indexierung gewusst. Vonseiten der Wiener Bildungsdirektion heißt es, der Index sei den Schulen kommuniziert worden. Ein flächendeckender Chancenindex an Österreichs Schulen wurde übrigens erst vor kurzem von der Armutskonferenz gefordert.

Weder Team- noch Förderlehrer

"Die Kinder werden alleingelassen", ärgert sich die Klassenlehrerin. Es ist zwölf Uhr, der Unterricht ist zu Ende. Sie stützt ihren Kopf in die Hände, wirkt erschöpft. Irgendwann sei das Limit von dem erreicht, was man als Top-Lehrkraft allein stemmen könne, sagt sie. Dabei spricht sie nicht nur von sich, sondern auch von ihren 25 Schülern. Denn dort kommt der Mangel an.

Alina würde eine spezielle Betreuung zustehen. Ihr neben dem Regelunterricht noch etwas Neues beizubringen, schafft ihre Pädagogin nicht. Förderlehrkräfte gibt es an der Volksschule keine. Auch Malek bräuchte Unterstützung. Zwar verbringt er täglich mehrere Stunden in der Deutschförderklasse, die Ergebnisse sind aber dürftig. Hätte die 4b einen Teamlehrer, könnten in Kleingruppen nicht nur die Sprachkenntnisse Maliks, sondern auch anderer Kinder verbessert werden.

Zwei Minuten Lesetraining

In den Regalen im hinteren Teil der Klasse stehen "Pippi Langstrumpf" und "Die Omama im Apfelbaum". Die Lehrerin rechnet vor: Will sie eine Unterrichtsstunde etwa zum Lesetraining nutzen, kann jedes der 25 Kinder im Schnitt zwei Minuten laut üben. Ein Defizit, das in anderen sozialen Milieus zu Hause ausgeglichen werden könnte. An dieser Schule nicht. Elf Sprachen werden in dieser Klasse gesprochen, nur ein Schüler hat keinen Migrationshintergrund. Auch der muttersprachliche Unterricht wurde an der Volksschule in den vergangenen Jahren stark gekürzt.

Es sind Schwierigkeiten, die sich bis in die vierte Klasse schleppen, sagt die Lehrerin. Schwierigkeiten, die mittlerweile in der Gesellschaft angekommen seien, die man in der Volksschule aber eigentlich ausbügeln könne. "Sprache kann ich nur durch Sprechen lernen und nicht, wenn ich einen Buchstaben nach dem anderen abkupfere", ergänzt sie. Und: "Wir wissen, wie es geht. Wir bräuchten nur mehr Personal und Zeit."

Eine Wahl haben

In der zweiten Unterrichtsstunde wiederholt die Klasse das "stumme H" und kreiert gemeinsam Wortfamilien. Dabei zeigen sich die Defizite besonders deutlich. Beim Besprechen der Hausübung muss fast jedes Wort erklärt werden. Was heißt Strahl oder kahl? Was bedeutet belohnen oder die Wahl haben?

Eine Wahl haben hier viele nicht. "Gerade am Ende der vierten Klasse sehen wir, wie viele Kinder wir nicht integrieren konnten", sagt eine andere Lehrerin, die ebenfalls eine Vierte an der Volksschule unterrichtet. "Weil sie der Sprache noch nicht mächtig sind, weil sie gedanklich noch nicht hier im Land angekommen sind." Besonders bitter sei es, wenn das Jugendamt oder die Polizei diese Sorgen bestätigen – oft erst nachdem die Schüler bereits die Volksschule verlassen haben. Zwar ist eine Sozialarbeiterin an zwei Tagen pro Woche vor Ort, für die Lehrkräfte ist das dennoch zu selten.

Bestmögliches herausholen

Zurück in der 4b: Als sich in der großen Pause der Geruch von Nutella und Schinken über den von Schweiß, Tafelkreide und Papier legt, steht die Klassenlehrerin in einer Ecke des Raums und schnippelt Obst. "Für die, die nichts zu essen da haben", erklärt eine Schülerin mit vollem Mund. Eine Pause hat die junge Frau nicht. Mit Blick auf den Lehrermangel muss man sagen: Für solche Aufgaben bräuchte es nicht zwangsläufig eine Pädagogin. "Wenn eine ausgebildete Lehrkraft die Verantwortung trägt, gäbe es genug Möglichkeiten für einen Assistenzjob, der hilft und unterstützt", sagt die Lehrerin.

Das viele "Dazwischenagieren" zehrt sichtlich an ihr. Was sie tut, ist das Bestmögliche aus einer schlechten Situation herauszuholen, wie sie sagt. Beobachtet man ihren Unterricht, merkt man, dass sie ihrer Klasse mehr wünscht: Im Sachunterricht zeichnet die Pädagogin eine Skizze der Gloriette im Schönbrunner Schlosspark auf die Tafel. Mit den Öffis ist die Parkanlage, in der das berühmte Schloss und sein kleines Pendant auf der Anhöhe gegenüber stehen, nur rund 40 Minuten entfernt. Manche Schüler aus der Klasse kennen die Gebäude trotzdem nur von Bildern. "Vielleicht geht sich das noch aus", sagt sie und meint einen Ausflug. Es klingt wie ein Versprechen. Dann legt sie die Kreide quer und zieht den Weg zur Gloriette nach, bis ganz nach oben. (Anna Wiesinger, 10.4.2024)