Italienische Sterneköche geben zwar vor, die Tradition zu ehren...

Foto: Lukas Friesenbichler

...am Teller landen aber oft Karikaturen.

Foto: Lukas Friesenbichler

Es geht nicht darum, ob Italien eh die natürliche Heimat des guten Essens ist oder ob Frankreich, Japan, vielleicht gar China doch auf mehr als die zweiten Plätze hoffen dürfen. Angesichts der schrankenlosen Hingabe, zu der die italienische Küche Auskenner wie Ahnungslose hinreißt, erübrigt sich die Frage - in Österreich schon gar.

Ohne Pasta und Paradeissauce, ohne Pizza, Prosciutto und den unendlich reichen Kosmos, der sich hinter diesen Crowd-Pleasern verbirgt, würde unsere Existenz und die Welt als Ganzes viel ärmer dastehen. Rätselhaft erscheint hingegen, dass ausgerechnet eine so souveräne, in ihrer Geschichte stets manisch kreative Küche wie die italienische tragisch scheitert, sobald diese Kreativität in den Kontext zeitgenössischer Edelküche übertragen wird. Selten nämlich wird man sich über verplemperte Zeit und hinausgeschmissenes Geld mehr ärgern, als nach dem Absitzen eines Degustationsmenüs in einem Dreisternerestaurant in Italien.

Dabei ist die Kunst des Hochzwirbelns massentauglicher Konzepte in die höheren Sphären der Kunst ansonsten doch genau das, worin die Italiener wie kaum ein anderes Volk Exzellenz beweisen. Im Design, beim Sportwagenbau, in der Mode ist Made in Italy seit jeher ein Garant für gewagte Ideen, die doch jedem gefallen müssen.

Gewiss, Italien weist nach Frankreich auch im jüngsten Guide Michelin die höchste Dichte an Sternerestaurants weltweit vor - da können sich die Spanier oder Japaner noch so anstrengen. Die dieser Art ausgezeichneten Großköche sind sich auch bewusst, wie schwer die Tradition und das kollektive Hochhalten des "Mangiar Bene" bei ihren Gästen aus dem In- und Ausland wiegen.

Der Scherz als großer Wurf

Entsprechend zentral wird auf den Speisekarten der High-end-Buden des Stiefels auch darauf eingegangen. Allzu oft aber wirkt die Auseinandersetzung mit der Tradition wie ein verzweifelter Kampf. Was als großer Wurf angelegt war, kommt am Teller als mäßig gelungener Scherz an. Heinz Beck vom La Pergola in Rom etwa, Dreisterner und trotz deutschen Passes über Jahre als bester Koch Italiens rezensiert, präsentierte unlängst gar nicht hochtrabend eine "Essenza dell' Osso Buco".

Was offenbar als Überhöhung des legendären Schmorgerichts gedacht war, stellt sich am Teller ernüchternd dar: Ein schmaler Zylinder aus Kalbstartare (?) wird mit einer Scheibe dicht gelierten Schmorsaftes belegt, statt Gremolata-Garnitur aus Petersilie, Knoblauch, Zitruszesten wird ein offenbar obligater Pinselstrich mit leuchtend grüner, geschmacklich fragwürdiger Kräuteremulsion gesetzt. Den als Beilage zum Osso Buco klassischen Riso al Zafferano zählt Beck in Gestalt von fünf Reiskörndln in Gelb dazu.

Was beim Gastronomiekongress "Identitá Golose" als großmächtige Interpretation eines Klassikers präsentiert wurde, kam bestenfalls als streberhaftes Abarbeiten an den Ingredienzien rüber, bei dem am Schluss ein traurig gescheiterter, aber verzweifelt beklatschter Versuch stand - Emotion kam keine rüber, schon gar nicht am Gaumen. Wobei: Wer sich auf Osso Buco aus der Hand eines Meisters gefreut hat, mag durchaus erhebliche Kabelspannung verspürt haben.

Anderer Dreisterner, anderes Beispiel: Massimo Bottura von der Osteria Francescana in Modena ist einer der kultiviertesten Köche überhaupt, nie um einen Vergleich aus der Welt der Kunst verlegen und mit Lehrmeistern wie Alain Ducasse und Ferran Adrià wohl auch einer mit denkbar exklusivem Werdegang. 

Wagemutige Kreativität

In der Francescana legt er im besten Sinne atemberaubende Ideen vor, Gerichte, die die Reise jederzeit wert sind. "Camouflage - ein Hase im Wald" etwa ist ein Beispiel von vielen für wagemutige Kreativität, die sich von aller Konvention befreit und mit schlafwandlerischer Präzision im Glückszentrum des Genießers aufschlägt: Ein Civet vom Wildhasen, wie eine Crème brûlée hauchdünn karamellisiert und mit allerhand mineralisch, kräuterig, erdig duftenden Pulvern aus der Hexenküche des Molekular- Magiers bestreut, sodass ein typisches Camouflage-Muster entsteht, das mit jedem Bissen anders schmeckt. Ein fleischiges Dessert von erhabener Wucht, das sich tief in die Erinnerung eingräbt.

Nur: Mit demselben großen Gestus lässt Bottura auch einen Schaum von der Mortadella servieren. Damit will er angeblich jene Emotion einfangen, die er als Volksschüler (Mamma!) beim Jausnen am Küchentisch erfahren durfte, als das Wurstbrot der Mamma ihm wie das Köstlichste auf Erden erscheinen wollte. Für solch kitschig prätenziösen Pomp möchte man den Mann zum Mond schießen - und sich stattdessen, verdammt nochmal, ein ordentliches Wurstbrot herwünschen.

In solchen Momenten wiegt die Last der Tradition ganz offenbar zu schwer. Aus der verhängnisvollen Kombination von höchstem kreativen Anspruch und gewaltigem gastronomischen Erbe wird etwas geboren, das am Gaumen als Rohrkrepierer ankommt - denkbar weit von jenen handfesten Wonnen entfernt, für die die Küche der Mammas und Trattori (Wirten) mit Grund weltberühmt ist.

Die Pasta, ein Albtraum

Besonders tragisch wird es, wenn in solchen Etablissements sogar die Pasta, das Herzstück der Idee vom italienischen Essen, danebengeht. Das kann einem etwa in Enrico Crippas gefeiertem Dreisterner Piazza Duomo in Alba passieren, einem besonders prätenziösen Tempel der Verballhornung lateinischer Lebensart. In dem ganz in Rosa gehaltenen und mit einem Francesco-Clemente-Fresko dekorierten Saal wird neben bis zur Denaturierung ziselierten und behandelten Kreationen auch eine Pasta al Ragù serviert - nominell die quintessenzielle Pasta asciutta des italienischen Nordens.

Nur dass Crippa sie natürlich ganz besonders machen muss, statt Paradeiser Paprikaschoten einkocht und am Schluss faschiertes rohes Kalbfleisch unter die Pasta hebt. Jede Mamma im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte würde ihn für diese Blödheit mit nassen Fetzen aus der Küche jagen. Der Gast aber, der für solch bemühtes Abarbeiten an nationaler Größe in Menüform 200 Euro bezahlen darf, hat zu applaudieren, so er nicht als Banause gelten will.

Offenbar gehört es als italienischer Dreisternkoch zum Grundverständnis, sich das Leben möglichst schwer zu machen. Wer nur die Idee der örtlichen Küche mit ihren Traditionen zu leben versucht, sich ohne Scheu zu ihr hinunterbeugt, um sie mit Sinn für Aktualität zu erfassen, hat zwar ein volles Haus. Um im Mutterland des guten Essens auch als Künstler wahrgenommen zu werden, sollte er aber bei jedem Amuse-Gueule mit Querbezügen zu Picasso oder, mindestens, John Cage aufwarten können. Und nur ja nicht jene gelassene Selbstverständlichkeit walten lassen, für die Italiens Küche überall sonst beneidet wird.

Unbefangener Zugang ist offenbar nur im Ausland möglich. Das beweist die Römerin Agata Felluga, die bei Pascal Barbot und Inaki Aizpitarte in Paris gelernt hat, nunmehr im Strassburger "Jour de fête" eine unbeschwert sprühende, an der Tradition ihrer Heimat orientierte Kreativküche präsentiert - und dafür gerade zum "Rising Star" einer neuen Generation junger Spitzenköche gewählt wurde. (Severin Corti, Rondo, DER STANDARD, 28.3.2014)