Wien - Der Schauplatz von Bernard-Marie Koltès' Schauspiel Quai West gehört zu den Randbezirken einer zerfallenden Metropole. An einen Kai im Armenviertel von New York schwappt ein toter Fluss: Im Schatten eines riesenhaften Hangars hausen Migranten, die einen lebensmüden Manager, der sich wegen eines Wirtschaftsvergehens zu ertränken wünscht, samt Begleiterin und Jaguar - gemeint ist die Automarke - in Empfang nehmen.

Koltès-Menschen sind Bewohner von Zwischenzonen. Sie entstammen den 1980er-Jahren, als die Globalisierung die Stadträume bereits erfasst hatte - als die Armut der Slumbewohner einen bitteren Vorgeschmack auf die Prekarisierung breiter Gesellschaftsschichten lieferte.

Die Ausschließungstechniken heutiger Profitmaximierer sind Koltès' Befunden lediglich nachgefolgt. Bernard-Marie Koltès (1948-1989), der Offizierssohn aus dem französischen Metz, übte poetische Zersetzungsarbeit. Er bewaffnete seine Figuren (in Quai West: eine alte Indianerin, deren kriegsgeschädigter Mann, ein Asiate, ein Araber, zwei Migrantenkinder) mit einer Sprache, deren hochrhetorische Mätzchen noch den starren Spielbein-Standbein-Klassizismus eines Jean Racine in den Schatten stellen.

Koltès-Stücke bestehen aus nichts anderem: Tiraden, deren monologische Anlage eher zufällig in Zwiegespräche mündet. Es sind ausgerechnet die Habenichtse, die dieser Weltautor am reichsten beschenkt hat: Ausgemusterte oder abgetakelte Menschen, die kein "normaler" Wirtschaftskreislauf für sich behalten würde, entwickeln die Beredsamkeit von wahren Verkaufsgenies.

In dem Duett Die Einsamkeit der Baumwollfelder (1987) gelangt die Grundsituation von Koltès-Stücken am erhabensten zum Ausdruck. Ein "Dealer" und ein "Kunde" verwickeln sich in ein Geschäftsgespräch, das die in Rede stehende "Ware" nicht benennt, sondern an ihrer statt ein wahres Arsenal an Lockungen und Reizungen verschießt.

Koltès-Sätze, zumeist ins Deutsche übersetzt von dem großartigen Simon Werle, erscheinen häufig glatt poliert wie hoch aufragende, klassizistisch gemeißelte Säulen. An ihrem Ebenmaß - paradox genug - müssen sich Verhältnisse messen lassen, die von Ungerechtigkeit handeln: von der Verhinderung von Chancengleichheit. Bernard-Marie Koltès selbst flog wie ein Komet durch den Theaterhimmel. Er verbündete sich früh mit dem Starregisseur Patrice Chéreau, der die wichtigsten seiner Stücke uraufführte. Im deutschen Sprachraum bemühten sich Zeitgrößen wie der vergessene Regisseur Alexander Lang um ihn.

Es sollte immerhin der Erwähnung wert sein, dass der preußische Nationaldichter Heiner Müller Quai West (1986) - nach Vorlage einer Interlinear-Übersetzung - in sein unvergleichliches Müller-Deutsch übertrug. Der Duft, der Ton der Vorlage mögen darüber verlorengegangen sein. Regisseurin Andrea Breth (siehe oben stehendes Interview) sah sich jedenfalls veranlasst, sich einer nunmehr nachgelieferten Werle-Vorlage zu bedienen.

Handelt Koltès' Dramatik von den Phantomen einer zwischen den Fingern der Profitmacher zerriebenen Weltkultur, so verstand er es wirksam, selbst ein Personenrätsel zu sein - und es nach seinem frühen Aids-Tod (1989) auch zu bleiben. Nach einer Jugend im Umfeld französischer Araberviertel zog es ihn hinaus in die Welt. Fragen nach seinen oft rätselhaften Texten begegnete er vermeintlich offen, in Wahrheit freundlich-reserviert: Theater sei doch ein Riesenspaß, ließ er achselzuckend verlauten.

Sein auch am Wiener Akademietheater gezeigtes Amokstück Roberto Zucco feierte die Anarchie radikaler Vereinzelung: Ein schöner junger Mörder tötet ohne ersichtlichen Grund wildfremde Menschen. Die Sonne des Mithras-Kultes liefert ihm Wärme und mythologisches Geleit. Auch die Figuren in Quai West sind unsere Schwestern und Brüder: Sie bilden die Vielfalt einer noch zu solidarisierenden Menschheit ab. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 29./30.01.2010)