Niki Kowall (Mitte), Miriam Broucek (ganz links) und die aufmüpfige Sektion 8: "Viel Potenzial schlummert in der SPÖ - doch man bekommt den Eindruck, dass es niemanden interessiert."

Foto: STANDARD/Cremer

Müllarbeiter Steininger: "Keiner weiß, wofür wir stehen."

Foto: Rubra

Linz/Wien - "Ich weiß nicht, welcher Irrsinn alle geritten hat": Jakob Kapeller ringt nach Erklärungen. Obwohl erst Ende zwanzig, ist er von der Partei einiges gewohnt. Der studierte Ökonom hat mitgelitten, als in den Neunzigern der "Neoliberalismus wie eine Bombe einschlug", und sich gegen Alfred Gusenbauers Umfaller in einer "Protestsektion" engagiert. Doch dass die SPÖ die Schuldenbremse schlucke, sagt Kapeller, treffe die Bewegung "ins Mark".

Der junge Uni-Assistent ist nicht der Einzige, der seiner Parteispitze "vorauseilenden Gehorsam" vorhält - gegenüber den Finanzmärkten, der ÖVP, dem deutschen Diktat in der EU. Gerechtigkeit hatte der Kanzler gepredigt, und Schranken für Spekulanten, doch dann kam er mit der Schuldenbremse aus Brüssel zurück. An der Basis hob Murren an, so laut, dass Werner Faymann beunruhigt dem heutigen Freitag entgegenblickt. Da will der rote Arbeitnehmerflügel Schmerzgrenzen für das Sparpaket abstecken.

Der SPÖ-Chef sei aus gutem Grund nervös, meint die Runde im Linzer Wirtshaus Zur Eisernen Hand bei Bier und Kasnock'n: "Wir steigen nicht runter." Blatt vor den Mund muss sich hier keiner nehmen, zumal sich Oberösterreichs Parteichef "Joschi" Ackerl selbst gern an gesinnungsschwachen Genossen in Wien reibt und eine Reformtherapie unter dem an chinesische Revolutionsopern gemahnenden Titel "Morgen Rot" verordnet hat.

"Sozialabbau und sonst nix" bringe die Schuldenbremse, glaubt Baubetriebsrat Helmut Gschiel, die Krisenverursacher blieben ungeschoren. "Wundert euch das?", schallt es von der anderen Tischseite zurück. "Die SPÖ macht doch jeden kapitalistischen Schwachsinn mit", schimpft der Müllarbeiter Gerold Steininger, seit 1967 in der Partei: "Kein Mensch weiß mehr, wofür wir stehen. Ich kenne Sektionen, da glaubst, du bist in der FPÖ." Mit der Selbstfesselung durch die Schuldenbremse, ergänzt Kapeller, entledige sich die SPÖ ihres Stammgeschäfts: gezielte Konjunkturpolitik, um Krisen wie die aktuelle zu überwinden. "Selbst Ratingagenturen checken mittlerweile diese Basics", sagt er.

Zur "Stimme der Vernunft" inmitten gleichgeschalteter Politiker und Medien hat Niki Kowall Standard & Poor's geadelt, als die Agentur vor blindem Sparen warnte. Das Wort des 29-jährigen Volkswirtschafts-Doktoranden zählt viel in den roten Widerstandsnestern, seit er und seine Mitstreiter von der Sektion 8 in Wien-Alsergrund der Mutterpartei mit einer beherzten Kampagne das Glücksspielgesetz abräumten. Lästig sind die Aktivisten, sie tadeln die Asylpolitik als "Schande der SPÖ" und sticheln gegen glatte Karrieristen im Scheinwerferlicht. Ignoriert, so wird auf der Homepage beklagt, werde die "uneitle, schlipslose, aber clevere Parteijugend", die der "alten Tante SPÖ" lehren könne, wieder "das Tanzbein" zu schwingen.

Ein Wurlitzer stünde im Hinterzimmer des Café Winter am Alsergrund bereit, sogar eine Discokugel gibt es. Von der Wand schauen Humphrey Bogart und Fred Astaire, dafür sind die Gesichter am Tisch jung. Akademiker unter 30 dominieren die "Achte", die im Ruf einer "Intellektuellen-Sektion" steht. "Natürlich ist ein IQ von 140 Beitrittsbedingung", witzelt Miriam Broucek, eine Juristin.

Ein Renner unter Gleichgesinnten ist das mit Fakten gespickte Argumentarium, in dem die Sektion 8 die Schuldenbremse zerpflückt - von vagen Berechnungsmethoden bis zum wachstumsabwürgenden Korsett. "Ein ideologisches Instrument zur Zurückdrängung des Staates" sieht Kowall und dahinter "eine dunkle Macht": Die radikale Marktgläubigkeit des "ökonomischen Mainstreams". Wenn es "ein Zentrum des Bösen" gibt, sagt Kowall, "dann ist es die Deutsche Bundesbank".

Haben sich die Österreicher anstecken lassen? "Die SPÖ ist so konservativ, dass ihr auch der Neoliberalismus zu modern ist", winkt Kowall ab. Abgesehen von der Frage, "wie viel ökonomisches Know-how Werner Faymann hat, um in der EU die Diskussion zu führen", sieht er die Wurzel des Übels woanders: "Wenn ein einzelner Mann aus Brüssel mit Entscheidungen heimkommt, die allen Parteibeschlüssen widersprechen, dann ist die SPÖ eine autokratische One-Man-Show."

Der Tunnelblick, der nur tagespolitische Spielchen im Auge habe, sei notorisch, meinen die Kritiker. Weder schmiede Faymann europäische Allianzen, um dem Schuldenbremsenwahn etwas entgegenzusetzen, noch nütze die Parteispitze die Brainpower in den eigenen Reihen. "Viel Potential schlummert in der SPÖ", sagt Broucek. Doch man könne mit den aufwändigsten Konzepten von Pontius zu Pilatus rennen - "und bekommt den Eindruck, dass es niemanden interessiert".

Auf Schadensbegrenzung hoffen die Rebellen, die sich nicht ins Träumereck schieben lassen wollen: Wenn schon Schuldenbremse, dann wenigstens nicht das starre deutsche Modell. Schuldenabbau ja, aber behutsam, ohne Sozialstaat und Wirtschaft in den Keller zu fahren. Und natürlich Vermögenssteuern - der große gemeinsame Nenner der Basis.

Kollektiver Harndrang

Während die Wiener noch auf den Durchbruch der "schweigenden Mehrheit" zählen, schwindet 200 Kilometer weiter westlich die so oft enttäuschte Hoffnung. Die SPÖ verhandle immer schlecht, geben die Linzer zu bedenken, und sie mache sich aus Panik vor Schwarz-Blau erpressbar. Kadavergehorsam fürchtet Jungfunktionär Kapeller. Ehe Aufständler im Parlament gegen Schuldenbremse oder Sparpaket stimmten, sei im entscheidenden Moment die Flucht aufs Klo angesagt: "Da setzt kollektiver Harndrang ein." (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 20.1.2012)