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Michael Sommer: "Die ganze Inszenierung hatte die Botschaft: Hier kommt ein Weihnachtsgeschenk. Wenn man sich dies genauer anschaut, dann entpuppt sich das als schlimme Morgengabe, unter der wir lange leiden müssen."

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Deutsche Steuerreform kleiner

Grafik: STANDARD/Quellen: Reuters/apa/dpa

Regierung und Opposition einigten sich auf Reformen am Arbeitsmarkt in Deutschland. Über die Auswirkungen sprach Alexandra Föderl-Schmid mit dem Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer.

STANDARD: Wie bewerten Sie das Vermittlungsergebnis?

Sommer: Die ganze Inszenierung hatte die Botschaft: Hier kommt ein Weihnachtsgeschenk. Wenn man sich dies genauer anschaut, dann entpuppt sich das als schlimme Morgengabe, unter der wir lange leiden müssen. Wenn die Menschen ab 2. Jänner zehn Euro Eintrittsgeld beim Arzt zahlen müssen und noch einmal zehn Euro beim Einlösen des Rezepts, werden sie sagen: 20 Euro, das entspräche einer Nettotariflohnerhöhung. Da wird es ein böses Erwachen geben. Auf der arbeitsrechtlichen Seite gibt es sehr, sehr negative Entscheidungen.

STANDARD: Was ist für Sie an dem Paket das Schlimmste?

Sommer: Eindeutig die Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose. Das heißt, dass sich ein arbeitsloser Lehrer in der widersinnigen Situation wiederfinden kann, sich als Klomann verdingen zu müssen. Nicht dass das ehrenrührig wäre, aber den Menschen sollen Löhne zugemutet werden, die bis zu dreißig Prozent unter den Tariflöhnen liegen. Dadurch entsteht ein ungeheurer Druck auf Tariflöhne.

STANDARD: Fürchten Sie damit ein negatives Signal für die Tarifverhandlungen?

Sommer: Ja, jede Tarifpartei, jeder Betriebsrat wird dann erpressbar. Das betrifft dann Verkäufer, Busfahrerinnen, Müllmänner, Hilfsarbeiterinnen, Reinigungskräfte. Die konkurrieren mit billiger einzusetzenden Langzeitarbeitslosen. Da wird dann gesagt, der macht’s für sieben Euro und du willst zehn Euro pro Stunde. Das wird vor allem in Ostdeutschland zu einer sozialen Katastrophe führen, wo die Löhne ohnehin schon niedriger als im Westen sind.

STANDARD: Im Vermittlungsausschuss wurde auf eine gesetzliche Regelung für Öffnungsklauseln in Tarifverträgen verzichtet. Sie werden nun von Regierung und Opposition dazu aufgefordert, dies freiwillig zu tun. Wie soll das funktionieren?

Sommer: In der Protokollerklärung steht: Wir erwarten von den Tarifparteien, dass sie im nächsten Jahr stärker betriebliche Öffnungsklauseln vereinbaren. Bei einer gesetzlichen Regelung, das wusste die SPD, wäre dies an den Lebensnerv von Millionen Beschäftigten gegangen.

STANDARD: Was ist, wenn das in einem Jahr nicht passiert?

Sommer: Wir machen Öffnungsklauseln, wenn diese erforderlich sind. Aber eine generelle Zusage für Öffnungsklauseln, das geht nicht. Sollten die Arbeitgeber sich an dieser Stelle nicht bewegen, werden wir diesen Konflikt in einem Jahr wieder haben.

STANDARD: Künftig gilt der Kündigungsschutz nur noch für Betriebe ab zehn, nicht mehr ab fünf Mitarbeitern, allerdings nur bei Neueinstellungen. Wie viele Menschen betrifft dies?

Sommer: Wir gehen davon aus, dass dies in drei bis fünf Jahren die volle negative Wirkung erreichen wird. Dann wären mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland ohne Kündigungsschutz. Kein Schutz vor willkürlicher Kündigung heißt: amerikanisches System, "hire and fire". Das ist ein starker Einschnitt, da hier Rechtlosigkeit um sich greift.

STANDARD: Ist das für Sie nicht schwer erträglich, dass ausgerechnet eine SPD-geführte Regierung dies einführt?

Sommer: In Deutschland ist manches schwer erträglich. Das fängt an mit der Massenarbeitslosigkeit und hört auf mit der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, wie sie von den beiden großen Parteien betrieben wird.

STANDARD: Wo sehen Sie den Unterschied zu Österreich?

Sommer: Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Wir haben hier die Situation, dass das, was die Christdemokraten fordern, teilweise von den Sozialdemokraten freiwillig gemacht wird – oder erzwungenermaßen, wie jetzt im Vermittlungsausschuss. Wenn sich die Union, die Kündigungsschutz in Betrieben erst ab 20 Mitarbeitern wollte, durchgesetzt hätte, wären noch einmal vier Millionen Menschen betroffen gewesen. Das kleinere Übel hat sich durchgesetzt. Aber das verändert den Charakter des Übels nicht.

STANDARD: Konkret: Was ist aus Ihrer Sicht in Österreich schlimmer?

Sommer: In Österreich können Sie noch immer sagen, da regiert eine schwarz-blaue Koalition, die durch Rot-Grün ersetzt werden könnte. In Deutschland regiert Rot-Grün schon und macht eine teils schwarz-gelbe Politik, was die Sache mit den politischen Alternativen schwieriger macht.

STANDARD: Ist das der Grund, warum sich die Gewerkschaften mit Protesten zuletzt so zurückhaltend verhalten? Viel schärfere Kritik kommt von Gruppen wie Attac.

Sommer: Wir werden in Zukunft stärker mit außerparlamentarischen Gruppen zusammenarbeiten. Das wird von den Gewerkschaften in Europa gemeinsam getragen. Wir bereiten einen großen Aktionstag für ein soziales Europa am 2. und 3. April vor. Wir wollen dabei auch mit einer falschen Politik abrechnen. Das werden auf jeden Fall Aktionen sein, die spürbar sind.

"Politische Rattenfängern à la Haider"

STANDARD: Ist das nicht zu spät, da die Reformen mit Jahresbeginn 2004 umgesetzt werden?

Sommer: Ich gehe nicht davon aus, dass das die letzten Einschnitte waren. Wir leben nach wie vor in einer Krisensituation.

STANDARD: Ist das dann ein Signal, mehr Einschnitte sind nicht zumutbar?

Sommer: Das ist ein Signal, hört auf, macht es sozial gerecht. Die Menschen spüren, dass sich etwas verändern muss. Es kann aber nicht sein, dass die einen bluten und die anderen abkassieren. Wenn das nicht gestoppt wird, wird das ein bitteres Erwachen geben. Das könnte dann den politischen Rattenfängern à la Haider nutzen.

STANDARD: Warum kam Ihre Warnung bei der SPD nicht an?

Sommer: Letztendlich ging es auch um die Frage des Überlebens dieser Regierung.

STANDARD: Was ist an dieser Regierungspolitik noch sozialdemokratisch oder links?

Sommer: Sehr viele treue Genossinnen und Genossen verstehen diese Politik nicht mehr. Und ich muss sagen, ich kann diese Menschen verstehen. Ich täte mich aber sehr schwer, aus der Partei auszutreten. Aber ich bin schon lange illusionsfrei. Das macht manches einfacher. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.12.2003)