Für private Kindergärten soll ein Anreizsystem entwickelt werden: bessere Förderungen für interkulturelle Durchmischung.

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Wien – 27 Empfehlungen in sieben Themenbereichen hat das von der Wiener Stadtregierung eingesetzte Expertenforum für Deradikalisierung ausgearbeitet. Dass knapp die Hälfte der Bevölkerung in Wien Migrationshintergrund hat, zeige, dass die Bundeshauptstadt eine "Migrationsgesellschaft" sei, sagte Soziologe Kenan Güngör am Donnerstag: "Die Vielfalt bietet Chancen, aber auch Probleme." Ein Problem sei Radikalisierung: So zeigte eine Studie Güngörs im Oktober, dass 27 Prozent der Muslime in der offenen Jugendarbeit "latent radikalisierungsgefährdet" seien.

"Wir brauchen wirksame Instrumente, um Jugendliche vor den Fängen der Extremisten schützen zu können", sagte die rote Integrationsstadträtin Sandra Frauenberger bei der Präsentation der Empfehlungen. Ein Schwerpunkt soll dabei auf der Schule und dem Kindergarten liegen. Diese müssten "Orte der Vielfalt werden", sagte Patricia Hladschik vom Ludwig-Boltzmann-Institut. Diese Vielfalt müsse sich bei Kindern, Jugendlichen und dem Lehrkörper abbilden. Daher solle ein Anreizsystem in puncto Förderungen für private Kindergärten erarbeitet werden, damit diese auf die bessere Durchmischung verschiedener kultureller Gruppen achten.

Für die Religionsvermittlung bei den Kleinen solle die Stadt einen Leitfaden erarbeiten und bei problematischer Vermittlung in einer privaten Einrichtung Sanktionsmöglichkeiten bekommen, so die Empfehlung.

Konfessionsübergreifender Unterricht

Ein weiterer Schwerpunkt solle auf die Arbeit im Unterricht gelegt werden. "Wir müssen gezielt politische Bildung fördern und in Medienkompetenz investieren", sagte Hladschik. Auch eine Weiterentwicklung des Religionsunterrichts sehen die Experten als zentral. Hier soll es zu konfessionsübergreifender Kooperation und Unterrichtsmodelle kommen, um ein "selbstreflektives Religionsbewusstsein" zu fördern. Zudem seien höhere Investitionen in Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen "unerlässlich": 20 neue Einstellungen soll es daher in diesem Bereich bis Jahresende geben, versicherte Frauenberger.

Außerhalb der Schule soll die offene Jugendarbeit gestärkt werden. Durch die Begleitung von Peer-Groups und Cliquen sollen gefährdete und gefährdende Milieus analysiert und beobachtet werden. Ein "Community-Forum" für afghanische und tschetschenische Jugendliche soll zur besseren Integration der beiden Gruppen beitragen. Zudem solle man auf die Arbeit mit Eltern setzen. So berichtet Ercan Nik Nafs, Kinder- und Jugendanwalt der Stadt und Koordinator des Wiener Deradikalisierungsnetzwerks, dass mit der Einbindung der Familie bessere Fortschritte erzielt würden. Eigene Selbsthilfegruppen für Angehörige radikalisierungsgefährdeter Jugendlicher würden den Austausch über den Umgang mit den Kindern fördern.

Perspektiven in Problemlagen

"Wir müssen Lebensperspektiven der Jugendlichen fördern", so Nik Nafs. Speziell vorbestraften Jugendlichen soll in ihrer Problemlage durch eine Ausbildungsförderung geholfen werden. Für Deradikalisierungsarbeit in Gefängnissen sollen die Ressourcen erhöht werden, um Rückkehrern zu helfen. "Deradikalisierungsarbeit in Freiheit ist schwer, in der Haft haben Jugendliche keine Perspektiven. Hier brauchen wir zusätzliche Programme", sagte Nik Nafs. Geprüft solle auch werden, ob die Rückkehrer bereit sind, für diese Arbeit eingesetzt zu werden.

Aber nicht nur der religiöse Extremismus biete Radikalisierungsgefahren. Rechtsextremismus und Nationalismus seien unter autochthonen wie unter migrantischen Gruppen spürbar, erklärte Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW). Zu diesen Gruppen müsse geforscht und Präventionsstrategien an die neuen Herausforderungen angepasst werden. "Das Problem ist ein gesamtgesellschaftliches. Wenn es nur um Jugendliche ginge, hätten wir es nicht. Aber sie können wir erreichen", sagte Peham. (Oona Kroisleitner, 10.11.2016)