Wien – Nach monatelangen internen Querelen kündigte Reinhold Mitterlehner am 10. Mai 2017 seinen kompletten Rückzug aus der Spitzenpolitik an. "Ich finde, es ist genug", sagte er und fügte hinzu: "Es ist unmöglich, einerseits Regierungsarbeit zu leisten und gleichzeitig die eigene Opposition zu sein."

Wenige Tage später übernahm Sebastian Kurz die ÖVP, rief Neuwahlen aus, ließ sich von den Landesobleuten alle Freiheiten geben und führte die von Schwarz auf Türkis umgefärbte Partei zum ersten Wahlsieg seit 2002. Mitterlehner gründete eine Firma und ist heute als Berater, Lobbyist sowie Vortragender tätig. Ein Gespräch über sein neues Leben.

Gehetzt wirkt Reinhold Mitterlehner heute nicht. Zum STANDARD-Interview ins "Salonplafond" im Museum für angewandte Kunst kommt er zehn Minuten zu früh.
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STANDARD: Einige Monate nach Ihrem Rücktritt haben Sie gesagt: "Im Prinzip musst du dich resozialisieren – wie nach dem Gefängnis." Sind Sie jetzt vollständig resozialisiert?

Mitterlehner: (lacht) Ich glaube schon, dass ich auf einem recht guten Weg bin. Nach einer eher euphorischen Phase am Anfang, einer Nachdenkphase in der Mitte, kommt jetzt die Landung im neuen Leben. Ich habe mehr Privatleben und eine Geschäftstätigkeit, die sich gut entwickelt.

STANDARD: Haben Sie den Schritt, den Sie im Mai 2017 gesetzt haben, je bereut und sich gedacht: Wenn alles etwas anders gelaufen wäre, könnte ich heute Kanzler sein?

Mitterlehner: Natürlich denkt man darüber nach. Wenn ich heute lese, dass wir damals nur auf Platz drei waren, dann muss ich schon sagen: 2015 hatten wir die Meinungshoheit und waren Erster. Wären nicht die internen Querelen gewesen, hätte ich eine bessere Ausgangslage auch für mich gesehen. Aber insgesamt habe ich die Entscheidung, die Konsequenzen zu ziehen, nicht bereut. Und zwar weil es eine selbstbestimmte Entscheidung war und keine unter Druck herbeigeführte.

STANDARD: Dem Auto geht's gut, oder rundherum zerkratzt, jetzt wo Sie wieder ohne Chauffeur auskommen müssen?

Mitterlehner: Das war das geringste Problem. Am Wochenende bin ich auch früher schon im Mühlviertel selber gefahren, weil es da eher einen komischen Eindruck hinterlässt, wenn man im eigenen Ort mit Fahrer unterwegs ist.

Früher sei er zu 90 Prozent fremdbestimmt gewesen, heute 90 Prozent selbstbestimmt, meint Ex-Politiker Mitterlehner.
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STANDARD: Was war das größere Problem?

Mitterlehner: Dass das gesamte Back-up-System fehlt: Flugtickets kaufen, Büroarbeit, Anmeldungen oder Abmeldungen bei der Sozialversicherung und andere Dinge, um die man sich als Minister nicht kümmern muss.

STANDARD: Jetzt machen Sie Beratung, Lobbying, Vorträge. Was kostet es, Reinhold Mitterlehner zu buchen?

Mitterlehner: Das wickle ich über die Agentur von Heidi Glück (Ex-Schüssel Sprecherin, Anm) ab. Über die Details bin ich gar nicht informiert, aber es ist ein ordentlicher Betrag. Ich mache auch noch immer viele politische Vorträge – etwa bei einer Gedenkveranstaltung des Mauthausen-Komitees in Braunau oder bei Rotary-Clubs. Dort trete ich gratis auf.

STANDARD: Worüber reden Sie?

Mitterlehner: Wenn es ein Spezialthema wie eine Gedenkveranstaltung ist, ist das Thema natürlich vorgegeben. Ansonsten rede ich relativ oft über die Digitalisierung, gesellschaftspolitische Perspektiven, Probleme, Chancen.

STANDARD: Wie darf man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen? Gibt's noch Zwölf- oder 18-Stunden-Tage?

Mitterlehner: Die Relation hat sich umgekehrt. Früher war ich zu 90 Prozent fremdbestimmt, jetzt bin ich zu 90 Prozent selbstbestimmt. Ich halte mir die Wochenenden frei, meistens mache ich auch freitags nichts. Ansonsten versuche ich aber, meine Arbeitstage unter der Woche ähnlich wie früher zu gestalten. Denn eine Erfahrung aus dem letzten Jahr ist auch: Den Tag einfach so vergehen zu lassen, ohne Plan, das ist absolut kontraproduktiv. Das Wort Tagewerk hat schon seinen Hintergrund.

"Man hat aktuell den Eindruck, dass jeder, der kommt, unter dem Verdacht steht, er komme nur aus wirtschaftlichen Gründen, er wolle sich irgendetwas erschwindeln", findet Reinhold Mitterlehner.
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STANDARD: Sie haben auch offen darüber gesprochen, sich nach dem Rücktritt einen Coach genommen zu haben. Sportlerfrage: Wie geht es einem nach so einer Niederlage?

Mitterlehner: Als Niederlage habe ich es nicht gesehen. Es war eine Entscheidung, die aufgrund des ganzen Umfeldes nicht mehr anders steuerbar war. Selbst wenn ich in der Partei durchgegriffen hätte, wäre keine Win-win-Situation entstanden. Ich hätte, selbst wenn ich mich durchgesetzt hätte, eine demotivierte Partei gehabt und bei den Wahlen entsprechend abgeschnitten. Zur Coachingfrage: Ich kann es nur jedem empfehlen, weil das total zu Unrecht negativ betrachtet wird, wenn man sich Unterstützung holt. Für mich ging es darum, die einzelnen Schritte abzustimmen. Gibt man Interviews? Was sagt man, was sagt man besser nicht? Wie richtet man sich persönlich aus? Zieht man sich zurück oder stellt man sich der Öffentlichkeit? Und vieles andere mehr. Da ist Unterstützung durch Profis etwas ausgesprochen Positives.

STANDARD: Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass die Machtübernahme durch Sebastian Kurz präzise vorbereitet war. Ein ziemlicher Intrigantenstadl, die ÖVP, oder?

Mitterlehner: Ich möchte über die ÖVP keine Kommentierung mehr abgeben. Jeder hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte verfolgt. Nicht zufällig hat die Volkspartei jetzt bereits den 17. Parteiobmann. Das kommentiert sich von selber. Mein Ansinnen ist es auch nicht, ständig Vergangenheitsbetrachtung durchzuführen. Das nutzt mir nichts und schadet möglicherweise jemand anderem. Daher: Es ist, wie es ist. Jetzt ist ein Jahr vergangen, und ich stelle mich der Gegenwart und der Zukunft.

STANDARD: Kann man in der Politik irgendjemandem trauen?

Mitterlehner: Politik ist ein hartes Geschäft. Es geht nicht immer um Inhalte oder die Sache, sondern eben auch um Macht. Da unterscheidet sich Österreich nur marginal von anderen Ländern. Ich würde aber nicht pauschal sagen, dass man in der Politik niemandem vertrauen kann.

STANDARD: Was war Ihre größte Fehleinschätzung?

Mitterlehner: Eine Fehleinschätzung hat sicher die ganze Immigrationsfrage betroffen. Es ist uns in der Regierung kein wirklich konstruktiver Zugang gelungen. Wir waren von dem Massenansturm überfordert, das hat die gesamte Gesellschaft geprägt. Das ist dann erst langsam in geordnete Bahnen gekommen. Jetzt besteht dafür die Gefahr, dass zu sehr pauschaliert wird.

STANDARD: Inwiefern?

Mitterlehner: Man hat aktuell den Eindruck, dass jeder, der kommt, unter dem Verdacht steht, er komme nur aus wirtschaftlichen Gründen, er wolle sich irgendetwas erschwindeln. Das betrifft aber nicht nur die Regierung. Ich beobachte das auch in meinem Ort. Wenn ich mir ansehe, wie vor drei Jahren die Hilfs- und Spendenbereitschaft ausgeprägt war, dann hat sich da einiges geändert.

Reinhold Mitterlehner würde trotz allem jungen Leuten raten, in die Politik zu gehen. Aber klar ist: "Es geht in der Politik nicht nur darum, die Welt zu verbessern."

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STANDARD: Würden Sie jungen Leuten heute empfehlen, in die Politik zu gehen?

Mitterlehner: Für mich war es eine ausgesprochen interessante Zeit. Was ich bei meinen 40 Auslandsreisen erlebt habe, das war prägend. Wenn man sich über Dinge ärgert, sollte man versuchen, mitzugestalten, ansonsten wird man gestaltet. Aber natürlich gibt es die angesprochenen Gefahrenbereiche: Es geht in der Politik nicht nur darum, die Welt zu verbessern, sondern auch um Machtspiele.

STANDARD: Sie haben Ihre Karriere in den 1980er-Jahren in der Wirtschaftskammer begonnen. Hat sich die Politik seither zum Guten entwickelt?

Mitterlehner: Manches hat sich zum Guten, manches zum Schlechteren entwickelt. Wenn ich sehe, wie heute auf Social Media auf Fake-News-Basis Politik gemacht wird – siehe Vereinigte Staaten oder auch bei uns -, dann sehe ich das ausgesprochen problematisch. Die Sachauseinandersetzung, die argumentative Abwägung – all das kommt unter dem Zeitgeistaspekt zu kurz. Auf der anderen Seite ist die Involvierung durch Social Media eine größere. Viele Leute sind auf diesem Weg für Politik zu begeistern. Das ist die positive Seite. Die vielzitierte Politikverdrossenheit sehe ich überhaupt nicht.

STANDARD: Sie waren immer ein Politiker, der Wert auf eine eigene Meinung gelegt hat, nicht nur wiederkäut, was andere vorgeben. Ist so etwas heute noch erwünscht? Stichwort Message-Control.

Mitterlehner: Das kommt immer auf die Perspektive an. Aus Sicht eines Parteichefs ist es natürlich interessant, teilweise sogar wünschenswert, wenn ich Message-Control habe und meine Projekte wöchentlich der Öffentlichkeit vermitteln kann. Auf der anderen Seite gibt es ein Spannungsfeld zur Ministerverantwortlichkeit, die eigentlich im Gesetz klar geregelt ist. Faktisch ist eine Art Richtlinienkompetenz beim Bundeskanzler wie in Deutschland entstanden. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass wir jetzt keine eigenständigen Persönlichkeiten mehr haben, ich denke da etwa an den Bildungsminister.

STANDARD: Sie waren in der Regierung und in der Wirtschaftskammer tätig, kennen also beide Seiten. Braucht es noch eine starke Sozialpartnerschaft oder ist die, wie Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling sagte, längst tot, sie weiß es nur noch nicht?

Mitterlehner: Die Sozialpartnerschaft wird es immer geben, solange es Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt. Sie hatte auch ganz sicher ihre Verdienste in der Vergangenheit, etwa wenn es darum gegangen ist, den EU-Beitritt vorzubereiten oder auch Lohn- und Preiskonflikte auszustreiten. Was jetzt fehlt, ist die gemeinsame Agenda, die für das normale Publikum nachvollziehbar ist. Etwa beim Thema Digitalisierung oder der qualitativen Weiterentwicklung der Lehrberufe. Daher hat man den Eindruck: Da wird nur Bestehendes verteidigt, das ist nicht in die Zukunft gerichtet. Dieser Herausforderung wird sich die Sozialpartnerschaft stellen müssen. Und zweitens ist eine stärkere Trennung von Gesetzgebung und Sozialpartnerschaft durchaus richtig.

Der frühere Kammermitarbeiter Mitterlehner plädiert für eine Neudefinition der Rolle der Sozialpartner.
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STANDARD: Da unterstützen Sie also Sebastian Kurz, der hier auf eine stärkere Trennung drängt?

Mitterlehner: Ja. Dass die Sozialpartner vermitteln, sie würden Gesetze bestimmen, ist nicht wünschenswert und in der Verfassung nicht vorgesehen. Aber man muss sie natürlich einbinden. In einem konstruktiven Prozess erreicht man meistens mehr, als wenn ich etwas verordne.

STANDARD: Sie haben alle politischen Funktionen zurückgelegt. Sind Jobs im Politikumfeld noch denkbar? Sie wurden immer wieder als Präsident der Nationalbank gehandelt.

Mitterlehner: Ich werde voraussichtlich im Juni die Präsidentenfunktion in der österreichischen Forschungsgemeinschaft übernehmen. Dabei geht es darum, Forschungsthemen interdisziplinär abzustimmen. Zur Notenbank: Ich strebe nichts mehr an, schließe aber auch nichts aus. Das ist eine Entscheidung der Regierung.

STANDARD: Sie haben die häufigen Wechsel an der ÖVP-Spitze angesprochen. Kurz ist der fünfte Obmann seit 2007. Hat er eine Chance, Langzeitparteichef zu werden?.

Mitterlehner: Da müsste ich Wahrsager sein. Aber mit den gewonnen Landtagswahlen hat er natürlich gute Karten, was die nähere Zukunft betrifft. (Günther Oswald, 9.5.2018)