Marc Hosemann, Sophie Rois und Kathrin Angerer auf der Perner Insel.

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Salzburg – Man muss für die Norweger, die Landsleute Knut Hamsuns, lukullisches Mitleid empfinden. Der Erstling des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers nennt sich ausgerechnet "Hunger" (1890). Das Buch handelt von den Irrwegen eines mittellosen jungen Mannes, der mit knurrendem Bauch durch Kristiania (das heutige Oslo) streift. Ein zerlumpter Wolf, der für einen Bissen Brot am liebsten töten würde; der es aber nicht fertig bringt, die abgewetzten Knöpfe seiner Jacke dem Pfandleiher unterzujubeln.

Regieprovokateur Frank Castorf ist wieder zu Gast bei den Salzburger Festspielen. Der ehemalige Leiter der Berliner Volksbühne hat sich diesmal den Roman "Hunger" des norwegischen Autors Knut Hamsun vorgenommen.
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In der Salinenhalle der Halleiner Perner-Insel dreht sich Norwegens alte Hauptstadt wie eine Gralsburg im Kreis: ein Monsalvat aus skandinavischer Lärche. Frank Castorf hat wieder die alte Volksbühnen-Mannschaft um sich versammelt: ein bewährtes Abrisskommando der Moderne, dessen Mitglieder jedes Romangebirge zuverlässig in lauter scharfkantige Brocken verwandeln.

"Swastika! Swastika!"

An Hamsun (1859-1952) muss sich jeder schneiden. Dieser völlig unvergleichliche Prosaartist diente sich und seine Schreibkunst noch im hohen Alter bereitwillig Hitler und den Nazi-Besatzern Norwegens an. Und so sieht man auf Aleksandar Denics Bühne Skandinaviens Wald vor lauter NS-Runen nicht. "Swastika! Swastika!", brüllt der dauererregte Marc Hosemann gleich am Anfang. Ausgerechnet auf dem Schild einer weltberühmten Bierfirma prangt beunruhigend das Hakenkreuz.

Hosemann wird während der nächsten fünf, sechs Stunden in die Rolle des Hungerkünstlers schlüpfen wie in eine ausgemergelte Haut. Er setzt sie – mit sich – unter Hochspannung. Hosemann ist der fieberäugige Agent der Auflehnung (und somit das Alter Ego seines intellektuell auf Krawall gebürsteten Regisseurs). Wie ein Marder im Feinrippleibchen umkreist er die Gesellschaft der auskömmlich gegessen Habenden. Castorf, der kluge Anarchist vom Prenzlauer Berg, gibt wiederum zu verstehen: Wie den Kläffer und Antisemiten Celine, so muss man auch den Empörer Hamsun genau betrachten, um dessen antizivilisatorische Polemik neu zu entdecken – und um den unverzichtbaren Gehalt von der braunen Schlacke zu scheiden.

Schnellgericht aus dem Take-away-Bereich

Zu den unbedingten Errungenschaften des nach-Hamsun'schen Zeitalters gehört die Idee des Schnellgerichts. Eine ganze Seite der ausladenden Drehbühne wird von einer – eher im Take-away-Bereich einzuordnenden – McDonald‘s-Filiale eingenommen. Hier vollenden die Schauspieler bei Bedarf auch ein paar Burger selbst, oder sie betrachten – wie die wunderbare Sophie Rois – versonnen ein Würstchen, das es so auf der ganzen Welt in keinem Schnellimbiss der Firma gibt.

Die unmittelbare Not des Hungerleidens entspringt wohl leider einer "Laune Gottes". Und der massige Josef Ostendorf startet eines der unzähligen Soli des Abends: einen Wutschrei gegen die verfehlte Schöpfung. Der in eine Orgie der oralen Luftabfuhr mündet.

Die Stimmung dieses mehr flächigen Theaterabends illustriert ein schwer fassliches Übel der Moderne. Diese kaum zu überblickende Prosalandschaft ist von den kommenden Nazis bevölkert: von den Quislingen, den Kollaborateuren der Massenmörder. Sie blicken als blonde Nordmenschen von den Rekrutierungspkakaten der SS herunter. Oder sie steuern mit Benzinfässern in der Fahrradablage (Hosemann) durch das sterbende Europa. Die für den Kontinent zu stellende Diagnose: Tod durch akute Sinnkrise. Armut ist (auch) ein spirituelles Phänomen.

Castorf und sein Dramaturg Carl Hegemann haben sich aber nicht damit begnügt, an jene Erniedrigten und Beleidigten zu erinnern, aus deren Mitte einst – bitteren Kohldampf leidend – ein gewisser Hitler entsprang. Sie haben den so übersichtlich abrollenden "Hunger"-Roman mit dem recht verschlungen erzählten Zweitwerk "Mysterien" (1892) verschnitten.

Tachnonadeln der Erregung

Die Tachonadeln der Erregung hüpfen hin und her, denn ein ganzer Schwarm skandinavischer Frauen reißt sich um den mysteriösen Heimkehrer Johan Nagel (trompetend: Lars Rudolph). Der trägt zitronengelbe Anzüge. Er verdreht allen die Köpfe und rettet obendrein verhöhnte Außenseiter der Gesellschaft vor rohen Gewaltausbrüchen. So wundersüß Castorf-Stars wie Kathrin Angerer diese Prosakaskaden wiederzugeben vermögen: Man klinkt sich zu fortgeschrittener Stunde aus den Irrungen und Wirrungen der vorletzten norwegischen Jahrhundertwende mit gutem Gewissen aus.

Mag "Hunger" somit auch nicht zu den raren Spitzenerzeugnissen der Romanverwertungsanstalt Castorf zählen: Festspiel-Salzburg, das für die Eskapaden der Sommerhitze ja nichts kann, darf sich glücklich schätzen, diesen schwer verdaulichen Brocken im Angebot zu führen.

Ein Bild bringt die entsetzliche Daseinsnot Andreas Tangens, des Helden von "Hunger", zum Ausdruck. Im Delirium der bittersten Entbehrung geht er dazu über, seinen eigenen Zeigefinger blutig zu verzehren. Spätere Versuche, einer schwarz verschleierten Damenbekanntschaft (Lilith Stangenberg) erotisch näherzutreten, fallen der eigenen Entkräftung eher schmählich zum Opfer. Auch darin steckt die Wurzel so vieler Übel: Hinter der Ideologie des "Übermenschentums" flackert die nackte Angst vor den Frauen.

Diven des Punk

Castorfs Schauspielerinnen aber, nervös abgefilmt hinter den Holzverschlägen Denics, um ihr Leben strampelnd, des eigenen Liebreizes kaum achtend, behaupten triumphal keifend ihr Recht auf Selbstbestimmung: Megären des Fortschritts, Diven des Punk.

Die stark gelichteten Reihen der Festspielgäste spendeten herzlichen Beifall. Frank Castorfs Archäologie der Moderne ist für das Gegenwartstheater bis auf weiteres völlig unverzichtbar. Da nimmt man auch das leidlich Geglückte gerne hin und hält es für großartig. (Ronald Pohl, 5.8.2018)