Ich und mein Mittlerer unterwegs Richtung Bahnhof.

Foto: Steffen Arora

Look Dad, no hands! Mein Jüngster genoss die Fahrten am Gepäckträger sichtlich.

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Downhill-Erfahrung hilft. Meine Tochter kurvte unbeschwert durch Amsterdam.

Foto: Steffen Arora

Amsterdam – Ein Kind am Gepäckträger, eins vorne aufs Rack gesetzt, und los geht's. Kein nerviger, klobiger Kindersitz, in den man die Kleinen schnallen muss. Einfach nur aufspringen und losradeln. So kurvte ich die vergangene Woche beim Familienbesuch in Holland wieder durch Amsterdam. Nirgendwo macht Radeln derart Spaß. Und das liegt meines Erachtens daran, dass man Radfahren hier noch als das sieht, was es ist: die einfachste, beste und lustigste Möglichkeit, zügig von A nach B zu kommen.

Hierzulande hätte mich die vergangene Woche wohl mehrmals den Führerschein gekostet. In Amsterdam gelten für Radler hingegen eigene Gesetze. Wichtig ist nur, sich an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Das heißt vor allem, schnell fahren und nicht bummeln. Damit entlarvt man sich sofort als Tourist. Und die sind das größte Hindernis auf Amsterdams Radwegen.

Wichtigste Regel: Nicht bremsen

Diese hohe Grundgeschwindigkeit ist gewöhnungsbedürftig. Vor allem, weil das herkömmliche Stadtrad höchstens eine funktionierende Bremse hat. Dieser Umstand bedingt, dass man sich schnell an die nächste Regel gewöhnt: nicht bremsen. Radler haben hier (fast) immer Vorrang. Ich muss mich nach jedem Besuch im Norden selbst daran erinnern, dass in Österreich leider noch die Kindermörder (so nennt man Autofahrer in Amsterdam bisweilen) Vorrang im Verkehr haben.

In Innsbruck würde man sofort ein Hupkonzert oder wütendes Gebrüll ernten, wenn man mit Verve in die Kreuzung brettert. In Amsterdam haben Autofahrer hingegen gelernt, wo ihr Platz in der Straßenverkehrsordnung ist: ganz unten nämlich. Dass man ihnen das beibringen kann, hat Amsterdam bewiesen. Denn bis in die 1970er war die Stadt noch autofreundlich ausgerichtet.

Rote Ampeln als Empfehlung

Eine weitere Regel, die den gelernten Österreicher zur Weißglut treiben würde: Rote Ampeln sind für Radler in Amsterdam höchstens eine Handlungsempfehlung. Es gilt die Grundregel: Auf großen, mehrspurigen Straßen mit schnell fließendem Verkehr sollte man sie zur eigenen Sicherheit beachten. Im Innenstadtbereich ist man hingegen eher ein Hindernis am Radweg, wenn man bei Rot anhält.

Was nach Verkehrsanarchie klingt, funktioniert in der Grachtenstadt problemlos. Die Amsterdamer sind hervorragende Radfahrer. Zu Stoßzeiten, wenn die Mitnahme der Räder in der U-Bahn untersagt ist, herrscht auf den Radwegen unglaubliches Getümmel. Und obwohl zwischen den unzähligen Radlern kaum fünf Zentimeter Platz ist, telefonieren die meisten am Handy oder tippen Nachrichten, während sie zügig im Schwarm übers Pflaster flitzen.

Helme sind hinfällig

Radhelme sind hier dennoch kein Thema. Niemand trägt die unschönen Eierschalen. Fietsen, wie die Amsterdamer das Radeln nennen, hat schließlich auch mit Style zu tun. Selbst die Kinder, egal ob selbst fahrend oder stehend/sitzend am elterlichen Bike, kommen ohne aus. Mir ist schon klar, dass Sie mich dafür im Forum lynchen werden, aber ich sage: gut so, weg mit den Helmen im Stadtverkehr. Ich trage ihn auch nur beim Downhillen.

Als in Australien die allgemeine Helmpflicht für Radfahrer eingeführt wurde, sank der Anteil an Radlern in den Städten um 20 bis 40 Prozent. Weil die Menschen sofort an Gefahr denken, wenn man für etwas zwingend einen Helm braucht. Auch meine Kids saßen vergangene Woche ohne Helm am Gepäckträger oder fuhren selber. Und sie liebten es.

Letztlich ist die einzig echte Gefahr für Radler wie Fußgänger in der Stadt das Auto. Es gab bisher keinen einzigen toten Autofahrer durch Radler, umgekehrt jedoch jährlich unzählige Verletzte und auch Tote. Daher sollte man dort ansetzen, anstatt uns Radler zu zwingen, uns vor den Kindermördern zu schützen. Etwa zwingend Tempo 30 oder weniger, überall im Stadtbereich. Oder grundsätzlicher Nachrang für Autos an ungeregelten Kreuzungen und viel mehr Einbahnen für Autos, dafür breitere Radwege mit Richtungsspuren.

Radwege sind heilig

Die Amsterdamer Radinfrastruktur ist Teil des Fiets-Erfolgskonzepts. Die markanten roten Radwege dominieren das Stadtbild und sind den Bewohnern heilig. Als kürzlich die Architekten bei der Umgestaltung des Rijksmuseum den Radweg, der direkt durch das Gebäude verläuft, verlegen wollten, kochte die Volksseele auf. "Die waren wohl nicht von hier. Die Pläne mussten sie schnell ändern", erzählte mir ein Freund letzte Woche.

Parken am Radweg, wie es hierzulande Usus ist für Taxler, Paketzusteller oder sonstige Rowdys, wäre dort undenkbar. Man hätte sofort ein paar Dellen und Kratzer im Wagen. Auch wer schon als Tourist in Amsterdam war, kennt die goldene Regel: niemals am Radweg gehen. Wer es doch wagt, kann es als Crashkurs für niederländische Schimpfwörter verbuchen.

Die einzige Vorschrift, die die Amsterdamer Polizei in den vergangenen Monaten halbwegs durchgesetzt hat, ist das Fahren mit Licht bei Dunkelheit. War vor ein paar Jahren nachts noch höchste Vorsicht geboten, wenn aus dem Nichts die Radler auftauchten, so hat mittlerweile ein überraschend großer Teil der Klapperkisten tatsächlich Beleuchtung.

Hauptstadt der Fahrraddiebe

Obwohl so gut wie jeder Rad fährt, ist nichts so belanglos wie das Rad selbst. Kaum jemand fährt hier am fancy Fixie oder Singlespeed. Das gängige Modell ist der Panzer oder das Hollandrad. Vorteil ist die aufrechte Sitzposition, die Dinger sind wartungsarm, und vor allem tut es nicht so weh, wenn es geklaut wird. Denn Amsterdam ist auch die Hauptstadt der Fahrraddiebe.

Daher ist das typische, kiloschwere Amsterdamer Kettenschloss, mit dem man mühelos auch einen Bagger abschleppen könnte, neben der Klingel das einzige Rad-Accessoire, das man wirklich braucht. Die Klingel ersetzt nicht selten die nicht funktionierende Bremse.

Zurück in Österreich muss ich mich nun erst wieder an die Vielzahl von Regeln und Verboten für Radler gewöhnen. Meinem Mittleren habe ich versprochen, dass er auch hier mal am Gepäckträger mitfahren darf. Amsterdam-Style nämlich, im Damensitz. Das ist ungleich bequemer für Fahrer und Passagier. Versuchen Sie es mal! (Steffen Arora, 7.11.2018)