Valerie Pachner und Pia Hierzegger als ungleich Schwestern in "Der Boden unter den Füßen".

Foto: Filmladen

Die düsteren Verse der paranoid-schizophrenen Conny hängen wie schwere Wolken über Marie Kreutzers Film. Am Anfang joggt unter diesen Wolken sehr athletisch Connys Schwester Lola – morbider Vers und vitale Frau sind sich dabei seltsam fremd. Nicht so am Ende des Films. Vor allem die letzten Zeilen scheinen fast mehr von Lola zu sprechen: "Ich bin mit mir seit gestern nur noch entfernt verwandt". Klarsichtiger ließe sich der Kontrollverlust, von dem Der Boden unter den Füßen erzählt, wohl kaum beschreiben.

Filmladen Filmverleih

Kreutzer stellt in ihrem Film zwei konträre Welten gegenüber: Consulting und Psychiatrie. Lola (Valerie Pachner), souverän, durchtrainiert, hitchcockblond, arbeitet mit Erfolg als Unternehmensberaterin. Ihr Leben zwischen Hotelzimmern, gesichtslosen Büros und der verwaisten Wiener Wohnung ist eng getaktet. "Fitter, happier, more productive", steht an der Tür zum Fitnessraum, den die junge Frau aufsucht – ein allzu offensichtlicher Hinweis auf die Selbstoptimierungsimperative des Neoliberalismus. Aktuell strukturiert Lola eine Firma in Rostock um, den Personalabbau serviert sie in Wellnessformeln ("Wir suchen das Gespräch"). Für Lola hängt von dem Auftrag viel ab. Ihre Vorgesetzte Elise (Mavie Hörbiger), mit der sie eine sexuelle Beziehung hat, stellt ihr eine Beförderung in Aussicht und eine Zukunft in Sidney – bei Scheitern droht Hildesheim.

Kino von neuen Arbeitswelten fasziniert

Das Kino hat die Berufsfelder des neuen Kapitalismus schon länger für sich entdeckt, es liebt die sterilen Räumlichkeiten, das Business-Kauderwelsch. Zu beobachten ist aber auch eine Lust, ihre durchökonomisierten Protagonistinnen zu destabilisieren, sie ins Chaos zu stürzen. Lolas freilich unkomische "Toni Erdmann" ist Conny (Pia Hierzegger). Nach einem Suizidversuch liegt sie in der Geschlossenen, der Zeitpunkt kommt Lola denkbar ungelegen. Unauffällig jettet sie nach Wien, die Schwester überfällt sie mitten in Conference-Calls mit Anrufen. Merkwürdig nur, dass Conny gar keinen Zugang zu einem Telefon hat. Kreutzer legt Spuren des Unheimlichen, die in dem sonst zu Überdeutlichkeit, Schematik neigenden Film auf schöne Weise im Nichts verlaufen.

Outgesourctes Chaos

Immer mehr droht Lolas effizientes Leben, von dem anderen, dem kranken, infiziert zu werden – "ein Burnout ist in unserer Branche wie Lepra". Schließlich verbergen sich aber auch hinter der Fassade der Rationalität genügend Schizo-Momente: verrückt viel arbeiten, Sexismus weglächeln. Pillen werden auch hier geschluckt. Dass man Connie eher wenig Interesse entgegenzubringen vermag, liegt vor allem an ihrer Funktionalisierung als Opposition. Die Kranke wird im Film zur Verkörperung der verdrängten Anteile Lolas: Dysfunktionalität, Schwäche, Kontrollverlust. Sie ist das outgesourcte Chaos – und moralisches Korrektiv.

Der Boden unter den Füßen lässt sich aber auch jenseits seiner Bedeutungsebenen erschließen: im Gesicht der großartigen Valerie Pachner. Feinnervig erzählt es die Geschichte einer wachsenden Destabilisierung: der Verlust der Verwandtschaft mit sich selbst als Ich-Erfahrung. Das allein ist ein Ereignis für sich. (Esther Buss, 19.3.2019)