Wer zuletzt lacht, lacht am besten: Schon bisher pfeift Italiens Vizepremier auf den Stabilitätspakt – und wird sich laut dem deutschen Chefvolkswirt der ING-Finanzgruppe, Carsten Brzeski, damit auch durchsetzen.

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"Eine alte, abtretende und seit den Europawahlen nicht mehr legitimierte EU-Kommission kann einer Regierung und einem Volk weder Vorschriften machen, noch kann sie Sanktionen verhängen." Markige Worte ist Matteo Salvini nie schuldig geblieben, besonders wenn er gegen die EU wettert. Tatsächlich hat Italiens Vizepremier und Innenminister bisher recht behalten, die EU-Kommission hat diese Woche das angekündigte Verfahren gegen das mit 132 Prozent des BIP hochverschuldete Land verschoben.

Im Hintergrund herrscht auch in Brüssel keine Einigkeit, wie mit dem Haushaltssünder umgegangen werden soll. Während Hardliner wie EU-Vizekommissionschef Valdis Dombrovskis oder Haushaltskommissar Günther Oettinger hart durchgreifen wollen, steht Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici auf der Bremse. Er befürchtet, dass ein Verfahren gegen Italien Salvini und seine rechtspopulistische Lega stärke.

Obsolete Defizitregeln

Nach den erdrutschartigen Zugewinnen seiner Partei bei der EU-Wahl verspürt Salvini Rückenwind – und lässt dies auch alle wissen: Vor wenigen Tagen hat der starke Mann in Rom mit dem Rückzug aus der Regierung gedroht, sollten die Steuern nicht bald hinuntergehen. Salvini hatte die EU-Defizitregeln wiederholt für obsolet erklärt und Steuersenkungen von zumindest zehn Milliarden Euro versprochen.

"Ich gebe Salvini in der Haushaltspolitik recht", sagt Carsten Brzeski, Chefökonom der niederländischen Finanzgruppe ING, und betont: "Aber nur in der Haushaltspolitik."

Diese interessante Folgerung leitet er über den langen Konjunkturzyklus her, der in der Eurozone zunächst durch die expansive Geldpolitik der EZB und den schwachen Euro künstlich verlängert worden sei. Die Währungshüter hätten ihr Pulver jedoch bereits verschossen, daher kann Brzeski zufolge nur noch die Fiskalpolitik für einen neuerlichen Schub sorgen – etwa durch Schulden finanzierte, staatliche Investitionen in Infrastruktur, Technologie und Bildung, wie es Japan vorexerziert habe.

Der Deutsche Carsten Brzeski, Chefökonom der niederländischen Finanzgruppe ING, erwartet, dass sich Matteo Salvini im Budgetstreit letztlich gegen die EU durchsetzen wird.
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In Japan herrscht seit dem Platzen der dortigen Immobilien- und Aktienblase Ende der 1980er-Jahre eine Mischung aus geringem Wachstum und kaum Inflation, der trotz extrem expansiver Geldpolitik nicht beizukommen war. "Wir sind in Europa ohnedies auf den Spuren Japans, dort kam auch als Nächstes die Fiskalpolitik", sagt Brzeski. Italien sei bei "der Japanisierung" bloß vorausgeeilt. Zum Vergleich: Das Land der aufgehenden Sonne ist derzeit mit mehr als 230 Prozent des BIP verschuldet.

Derzeit sperrt sich laut dem ING-Volkswirt "Kerneuropa", allen voran Deutschland und die Niederlande, gegen eine dazu nötige Aufweichung oder Abschaffung des Stabilitätspakts oder einen Haushalt für die Eurozone. Dadurch werde der Ball indirekt an die EZB weitergespielt. Allerdings funktioniere die Geldpolitik alleine nicht ausreichend, zudem würden anhaltende Niedrigzinsen zum Zusammenbruch kapitalgedeckter Vorsorgesysteme führen und Sparer bestrafen.

Andauernde Stagnation

In Italien herrscht seit 20 Jahren Stagnation, dazu gibt es im Land ein starkes Nord-Süd-Gefälle. Die große Ungleichheit habe zudem zu einer Unzufriedenheit geführt, der man Brzeski zufolge durch Umverteilung begegnen sollte, was ebenfalls Aufgabe der Fiskalpolitik sei. Derzeit herrsche darüber in der Eurozone keine sachliche Diskussion, was sich aber ändern könne. Brzeski ist der Ansicht, dass es etwa in der EZB unter ihrem scheidenden Chef Mario Draghi derzeit keine Denkverbote gebe. Zudem erwartet er, dass die Widerstände der Kernzone langsam wegbrechen werden – nicht über Nacht, aber sukzessive.

Was würde also passieren, wenn Italien das Budgetdefizit von heuer 2,4 auf fünf Prozent hochfährt? Es könne sein, dass die Anleiherenditen Italiens aus der Furcht vor Verschuldung nach oben schießen, sagt Brzeski. Andererseits könnten sie auch sinken, wenn die Investoren merken, dass das Land endlich wieder wächst – je nachdem, ob man Italiens Problem als Schulden- oder als Wachstumskrise auffasst. "Es ist ein Experiment", räumt Brzeski ein. "Aber davon kann das Schicksal der Eurozone abhängen." (Alexander Hahn, 30.6.2019)