Fast alle Parteien tun es, die meisten sprechen bloß nicht darüber: Online-Targeting. "Wenn wir wollten, könnten wir ein Posting nur an Facebook-User ausschicken, die sich gerade in diesem Kaffeehaus befinden", sagt Michael Würges, Leiter der Social-Media-Abteilung der SPÖ, und rührt seinen Verlängerten. Das wäre freilich nicht besonders zielführend.

Die Sozialdemokraten wollen ihre Chefin Pamela Rendi-Wagner trotz ständiger Anwesenheit eines Profifotografen möglichst lebensnah zeigen. Die Bilder würden kaum bis gar nicht retuschiert, heißt es.
Foto: Alexander Danner

Die Sozialdemokraten würden diese Form gezielter Kommunikation aber etwa anwenden, wenn sie am 1. Mai Leute, die sich gerade in der Nähe des Demozuges befinden, motivieren möchten, auch teilzunehmen. Man könne auch ausschließlich FPÖ- oder Grünen-Sympathisanten, Junge, Alte oder Menschen auf dem Land mit perfekt für die Zielgruppe geeigneten roten Inhalten erreichen – Sozialthemen für FPÖ-Anhänger, Klimaforderungen nur für Grünen-Affine. Facebook macht das möglich. Der Social-Media-Konzern weiß schließlich alles über seine Schäfchen – und stellt die Informationen Kommunikatoren bereit.

Die heimische Sozialdemokratie hat diesen Frühling Social Media für sich entdeckt. Im Onlinewahlkampfteam arbeiten heute rund zwei Dutzend Leute, seit März 2019 hat die SPÖ mehr als 150.000 Euro in ihre Facebook-Reichweite gesteckt. Im Wahlkampf von Christian Kern waren diese Dimensionen noch völlig undenkbar.

Mehr Likes sind kein Zufall

Lange Zeit galten die FPÖ und ihr damaliger Chef Heinz-Christian Strache als Vorreiter der Onlinekommunikation. Dann zog ÖVP-Obmann Sebastian Kurz nach. Im Juli 2019 war es die SPÖ, die die meisten Interaktionen in den relevanten sozialen Medien verzeichnete, zeigt eine Auswertung der Monitoringseite Storyclash. Chefsozialdemokratin Pamela Rendi-Wagner hat mit rund 100.000 Fans auf Facebook zwar deutlich weniger Anhänger als Kurz mit mehr als 800.000 Followern. Aber sie bekommt mehr Likes, Shares und Kommentare als die Konkurrenz.

Das ist kein Zufall. Dahinter steckt eine Strategie. Und die wurde nicht von den roten Chefkommunikatoren, sondern einer Schweizer Beratungsagentur entworfen. Fehr Advice heißt das Unternehmen, das sich gemeinsam mit den Sozialdemokraten kein geringeres Ziel gesteckt hat, als mit jedem Österreicher mit Facebook-Account vor der Wahl am 29. September zumindest ein Mal in Kontakt zu treten.

Facebook und Instagram sind die für Parteien relevanten Social-Media-Kanäle, für die auch Geld ausgegeben wird, um die eigene Reichweite zu erhöhen.

Die externen Social-Media-Experten setzen dabei auf etwas, das in der gängigen Politikberatung für gewöhnlich weniger Beachtung findet: Verhaltensökonomie.

Um zu verstehen, was diese in der politischen Kommunikation nutzt, muss man Fehr Advice genauer betrachten: Am Anfang der Unternehmensgründung standen ein ungleiches Brüderpaar und eine Idee. Die beiden gebürtigen Österreicher Ernst und Gerhard Fehr wollten ihre Expertise aus der Welt der Wissenschaft und des Unternehmertums verbinden. Der an der Uni Zürich forschende Volkswirt Ernst Fehr ist Pionier der Verhaltensökonomie und gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen im deutschsprachigen Raum, viele handeln ihn als Anwärter auf den Nobelpreis. Sein jüngerer Bruder Gerhard Fehr, ebenfalls Ökonom, sammelte über viele Jahre Erfahrung in der Schweizer Finanzbranche.

Wie Menschen ticken

Vor elf Jahren wurde die Idee geboren, aus dem 25-jährigen Fundus des Verhaltensforschers praktische "Managementtools" für Wirtschaft und Politik abzuleiten.

Wie das funktioniert? Statt theoretische Modelle zu basteln, die auf abstrakten Annahmen über Individuen basieren, studierten Fehr und seine Kollegen, wie sich Menschen tatsächlich verhalten. Durch geschickt gestaltete Experimente ergründen die Forscher seither, wie sich Leute motivieren lassen und was dahintersteckt, wenn jemand scheinbar irrational handelt. Indem sie ihre Probanden in Spielen um Geld gegeneinander antreten oder zusammenarbeiten lassen, sehen die Ökonomen, wann der Mensch dazu neigt, andere übers Ohr zu hauen – oder sich zugunsten der Allgemeinheit aufzuopfern.

Was Ökonomen dabei helfen soll, das Verhalten von Marktteilnehmern besser zu verstehen, ist ein gefundenes Fressen für Marketingabteilungen und Politiker, die sich nichts sehnlicher wünschen, als das Verhalten ihrer Kunden oder Wähler zu verstehen – besser noch: zu beeinflussen.

Genau das verspricht Fehr Advice seinen Klienten. Mit "Behavioral Tech" designen die Berater Umfragen und Experimente für ihre Kunden, die auf den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie beruhen.

Identifikation motiviert Menschen

Eine zentrale Erkenntnis der Disziplin: Menschen werden oft am besten motiviert, wenn sie sich stark mit einer Sache identifizieren. Das ist weniger banal, als es klingt. Schließlich konkurrieren Identitätsanreize oftmals mit egoistischen Gewinnchancen. Aufs Politische übertragen: Ein Wähler unterstützt mitunter eher eine Partei, die für etwas einsteht, womit er sich identifiziert, selbst wenn die Pläne der Politiker vom Wähler Opfer fordern – man denke an einen Autofahrer, der die Grünen wählt.

Am Anfang der Beratung der SPÖ standen ein "Basisworkshop zu Social-Media-Strategien und -Kampagnen" und eine Fehleranalyse. Was die Sozialdemokraten demnach bisher falsch machten: Über Social Media wurden "Botschaften" platziert. "Wir mussten erkennen, dass das so nicht mehr funktioniert", sagt Würges. "Die Leute haben uns einfach nicht zugehört."

Zuerst begann die SPÖ damit, recht banale Kalendersprüche zu posten ...

Fehr Advice hat deshalb ein Konzept entwickelt, das gerade bei eingesessenen Kampagnenprofis der SPÖ für Kopfschütteln sorgte. Die Devise: erst einmal völlig unpolitisch sein. Gepostet wurden ab Juni fast ausschließlich banale Kalendersprüche ("Wunder sind leise") und regionalisierte Heimatverbundenheit ("Ich liebe mein Kärnten"). Das war der Einstieg in einen Dialog mit den Usern.

Langsam habe man dann darauf aufgebaut, mit der Zeit wurden die Inhalte immer politischer. "Inzwischen posten wir konkrete sozialdemokratische Lösungsvorschläge", sagt Würges. "Natürlich haben wir auch Menschen vom Beginn wieder verloren. Aber achtzig bis neunzig Prozent konnten wir halten." Den notwendigen Mitteleinsatz hält der rote Social-Media-Chef im Vergleich zu einer Plakatkampagne für "überschaubar".

Nationalstolz statt Netflix

Die Sozialdemokraten sind nicht die einzigen, die auf Fehr Advice setzen. Die Berater mit Hauptsitz in Zürich haben etwa den Schweizer SRG, das eidgenössische Pendant zum ORF, wohlbehütet durch eine Volksabstimmung zur Abschaffung der Rundfunkgebühren begleitet. Dabei setzten sie auf Nationalstolz, statt mit dem Servicegedanken von Netflix zu konkurrieren.

Als die FPÖ in Regierungsverantwortung ein ähnliches Begehren zur Abschaffung der GIS-Gebühr vorantrieb, war man beim ORF alarmiert. Gemeinsam mit Fehr Advice, die seit 2018 auch ein Büro in Wien unterhalten, soll die identitätsstiftende Rolle des öffentlichen Rundfunks in Österreich hervorgekehrt werden.

... im Lauf der Zeit wurden die Inhalte immer politischer.

In der Zusammenarbeit mit der SPÖ betont Fehr Advice, dass es "ausschließlich um positive Kampagnenführung" gehe. Zur konkreten Beratertätigkeit wollte sich bei der Agentur niemand äußern.

Die rote Social-Media-Strategie sollte aber jedenfalls auch ins echte Leben übersetzt werden. Auf Rendi-Wagners Tour durch die Bundesländer traf sie über Facebook geköderte Interessierte in kleinen Gruppen. In Innsbruck hat sie etwa eine Stadtführung mit nur drei Frauen unternommen. Am nächsten Tag schickte sie ihnen aus Niederösterreich eine Postkarte.

Keine retuschierten Bilder

Der Hintergedanke: Rendi-Wagner und die SPÖ sollen nahbar sein – in der analogen wie auch in der digitalen Welt. Menschen, die sie trifft, erzählen das Freunden und der Familie – und die erzählen es auch wieder weiter. Um Rendi-Wagners Authentizität auszudrücken, würden Fotos von ihr kaum retuschiert, heißt es.

Wichtig sei im Wahlkampf aber auch, dass es anders als bei Kurz nicht nur um Rendi-Wagner gehe, erzählt einer ihrer Mitarbeiter. Das Ziel sei es, dass die SPÖ gemeinsam mit ihr an Beliebtheit gewinnt. Dadurch seien Geld und Kapazitäten auch deutlich nachhaltiger investiert. (Katharina Mittelstaedt, Leopold Stefan, 24.8.2019)