Im Gastkommentar geht Selma Mahlknecht der Frage nach, wie Tourismus nach der Krise aussehen könnte. Schichttourismus, Gesundheitspass – alles muss penibel durchgeplant werden.

Viele von uns sehen derzeit gleichermaßen fasziniert und ohnmächtig zu, wie alles, was wir uns in diesem Jahr vorgenommen hatten, zerbröselt. Dies gilt auch für bereits gebuchte Urlaube, und wir hoffen nur noch, dass wir ohne Stornogebühren davonkommen. Dabei fühlen wir dumpf, dass hinter dem geplatzten Ferientraum noch eine größere Gefahr lauert, nämlich dass der Tourismus, wie wir ihn kannten, zumindest vorläufig nicht mehr möglich sein wird. Überfüllte Après-Ski-Diskotheken? Lange Schlangen vor Frühstücksbuffets? Am Sandstrand ein Meer öliger Leiber, das nirgendwo endet? Damit ist vorläufig Schluss. Was aber kommt danach?

Overtourism adé

Optimisten sehen jetzt die Chance, dass der vielkritisierte Massen- und Overtourismus der vergangenen Jahre durch eine nachhaltigere Variante ersetzt wird. Realistischer ist wohl, dass das Zauberwort Qualitätstourismus, das seit Jahren herumgeistert, sein wahres Gesicht zeigt: Alles wird teurer. Harte Zeiten für Schnäppchenjäger und Billiganbieter.

An die Stelle des Massentourismus tritt also der Vereinzelungstourismus. Das leuchtet ein: Da Physical Distancing uns noch eine Weile begleiten wird, wird eine räumliche Entzerrung der Urlauberknäuel unumgänglich sein. Dazu bieten sich zwei Möglichkeiten an: Ausweichen auf weniger stark frequentierte Orte – oder durchgetaktetes Aufteilen der Menschenmassen.

Leere Stühle an der französischen Riviera. Wie werden wir künftig reisen – und wie weit?
Foto: AFP / Valery Hache

Denkbar sind gestaffelte Eintrittszeiten für Städte, Strände, Klettersteige und Co. Wer jedoch an die Reservierung erst denkt, sobald er vor dem Drehkreuz steht, ist arm dran: Touristische Hotspots werden auf Wochen und Monate im Voraus ausgebucht sein – unser Reisen nach der Krise will penibel durchgeplant werden. Für erfahrene Gruppenreisende, Cluburlauber und Kreuzfahrtliebhaber längst nichts Neues mehr. Und wenn Sie zu jenen Personen gehören, denen eine straffe Organisation immer schon ein Anliegen war – die andere Hälfte der Menschheit spricht hier von Kontrollfreaks –, dann bricht für Sie jetzt ein goldenes Zeitalter an.

Neuer Schichttourismus

Natürlich löst der Schichttourismus nicht alle Probleme. So ist zu befürchten, dass der Individualverkehr noch zunehmen wird – auf volle Busse und Straßenbahnen hat im Moment niemand Lust. Die bestehende Infrastruktur wird daher schnell überlastet sein. Mittelfristig könnte es jedoch durchaus Alternativen geben: Eine kleinteiligere Strukturierung von Zugwaggons oder selbstfahrende City-Kleinbusse mit Elektromotor, aber auch der Ausbau von Radwegen könnten hier Abhilfe schaffen.

Überhaupt wird es auf den findigen Unternehmergeist ankommen, der Lösungen für finanzkräftige Solipsisten anbieten kann: ein Bett im Kornfeld, ein Zimmer im Baumhaus, ein Bärenfell im Iglu (auf Wunsch natürlich auch vegan). Angedacht werden auch Strände mit individuell buchbaren Strandhütten oder schwimmende Plattformen. Wer noch etwas tiefer in die Tasche greifen kann, reserviert gleich eine ganze Insel für sich und seine Liebsten.

Exklusiver Spaß

Hier erklimmen wir die höchsten Höhen des Qualitätstourismus: das All-exclusive-Angebot. Nobelorte wie St. Moritz sind hier schon seit Jahren Vorreiter, jetzt könnten auch andere Destinationen nachziehen: Für private Festivitäten ultrareicher Premiumgäste wird mal eben das ganze Dorf abgeriegelt. Eine Win-win-Situation: Der potenziell ansteckende Pöbel bleibt draußen. Und die Jahresbilanz der Hotels ist trotzdem gerettet.

Und apropos ansteckend: Schon warnen Experten vor dem Auftauchen weiterer noch unbekannter Krankheitserreger, entfesselt durch Massentierhaltung, Zerstörung von Lebensräumen oder das Auftauen des Permafrosts. Da sich eine radikale Kehrtwende in unserem räuberischen Umgang mit der Natur nicht abzeichnet und ganz im Gegenteil alles darauf wartet, die Wirtschaftsmotoren schnellstmöglich wieder hochzufahren, dürfen wir uns auf härtere Tage gefasst machen.

Auch die Tourismusindustrie wird sich entsprechend rüsten. So wird der ständig aktualisierte Gesundheitspass künftig wohl integrativer Bestandteil der Reisedokumente, und auch während des Aufenthalts wird man sich mehrfach kurzen Routinekontrollen unterziehen müssen. Hier wird die digitale Überwachung eine zentrale Rolle spielen. Automatische Temperaturmessung an Flughäfen und anderen öffentlichen Orten oder Self-Tracking-Apps – was bis vor kurzem noch nach einem unerhörten Eingriff in unsere Privatsphäre klang, erscheint uns mittlerweile als vergleichsweise erträglicher Preis für unsere Bewegungsfreiheit.

Renaissance der Naherholung

Freilich könnte es für einige Tourismusdestinationen künftig düster aussehen. Nach dem kollektiven Pandemietrauma werden sich Urlauber gut überlegen, wohin sie reisen. Immerhin muss man damit rechnen, dort eventuell auf unbestimmte Zeit festzusitzen. Da werden plötzlich Parameter wie eine hochwertige Gesundheitsversorgung oder stabile politische Verhältnisse zu zentralen Auswahlkriterien. Nobelhotels mit eigenen Krankenstationen oder Quarantäneflügeln könnten hier bald zum guten Ton gehören.

Derzeit steht ohnehin die große Renaissance der Naherholungszone an. Tagesausflüge in die nähere Umgebung, ein Wanderurlaub in Osttirol oder Kanufahren auf dem Bodensee: Klingt doch wunderbar, oder?

Aber vergessen Sie nicht, früh genug zu buchen. (Selma Mahlknecht, 12.5.2020)