Erika Tiefenbacher leitet die Mittelschule in der Schopenhauerstraße in Wien-Währing.

Foto: Heribert Corn

Ab Dienstag sind auch alle Schulen (mit Ausnahme der Sonderschulen) im Lockdown, was in dem Fall bedeutet, dass sie umgestellt werden auf Distance-Learning. Es gibt aber die Möglichkeit, dass die Kinder, aus welchen Gründen auch immer, sehr wohl in die Schule kommen – oder aber dorthin geholt werden. Das hat die Regierung ausdrücklich so vorgesehen. Bildungsminister Heinz Faßmann hat extra betont, dass etwa Kinder, die zu Hause keine entsprechenden Arbeitsplätze oder -geräte haben, "kommen sollen, damit die Bildungsschere nicht weiter auseinandergeht". Wie viele tatsächlich die Schulen bevölkern werden, wird sich in dieser Woche zeigen, weil auch tage- oder stundenweise Betreuung möglich ist.

Die Befürchtung vieler Eltern ist, dass ihre Kinder in der Schule nur "betreut" werden und nicht das lernen, was die Distanzkinder lernen. Nicht so in der Mittelschule Schopenhauerstraße in Wien-Währing, betont Direktorin Erika Tiefenbacher. Denn Distanzunterricht ist ja per se ortsunabhängig – warum sollten sich Kinder, die vor Ort sind, nicht zu dem einloggen, was die anderen eben von daheim aus machen?

Tiefenbacher wird pro Tag ungefähr ein Drittel der Schülerinnen und Schüler im Haus haben, allerdings nicht immer dasselbe. Wie ihr Lockdownmodell aussieht, erklärt sie im STANDARD-Interview.

STANDARD: Was sagen Sie denn zur Lockdownkonzeption für den Schulbereich? Drei Wochen Distance-Learning (fast) für alle Schülerinnen und Schüler, aber es kann auch jedes Kind in die Schule kommen, das will, das soll oder das muss, etwa weil es in der Familie niemanden gibt, der es betreuen könnten. Wie geht es Ihnen damit?

Tiefenbacher: Wir sind alle gut drauf. Die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler. Und wir haben zum Glück das Schlupfloch, durch das wir die Kinder zu uns in die Schule holen können. Ich war am Anfang enttäuscht und fast wütend über den Schullockdown, aber mittlerweile sehe ich uns auf einem guten Weg und glaube, dass wir allem gerecht werden können – dem Covid-Risiko und den Schutzbedürfnissen, den Kindern, der Betreuung und dem Lernen.

STANDARD: Was heißt das konkret? Wie wird der Schulbetrieb im Lockdown bei Ihnen ablaufen?

Tiefenbacher: Wir haben jede Klasse in drei Gruppen geteilt. Ein Drittel der Kinder schafft das Distance-Learning, bei denen geht das gut. Die haben einen Computer zu Hause, die haben dort Ruhe, die sind fleißig. Zwei Drittel unserer Kinder aber schaffen es nicht, wobei ein Drittel nur einen Schubser braucht. Diese Kinder müssen angeleitet werden und brauchen Regeln. Das kleinere, knappe Drittel braucht eine intensivere Betreuung. Wir machen es so, dass wir mit dem einen Drittel Distanzunterricht machen und die anderen zwei abwechselnd tageweise in die Schule kommen lassen. Wir haben dann die Kinder, die es brauchen, jeden zweiten Tag da, die jeweils in einer Klasse in Gruppen mit vier bis sechs Schülern mit einem Lehrer lernen.

STANDARD: Lernen diese Kinder, die in der Schule sind, denselben Stoff, den die Distance-Learning-Kinder daheim durchmachen – oder werden die in der Schule "nur" betreut und anders beschäftigt, wie viele befürchten, weil das auch nicht so eindeutig kommuniziert wurde? Die Rede ist ja immer von "Betreuung und Lernbegleitung".

Tiefenbacher: Die machen dasselbe wie die Kinder daheim, und sie werden natürlich auch unterstützt. Wir sind diesmal ja besser vorbereitet, weil wir alle mit MS Teams arbeiten, wo die Kinder Aufgaben draufgestellt bekommen. Die Kinder haben verschiedene Einstiegszeiten, wo sie online sein müssen, dann ist zum Beispiel um acht oder um neun Uhr Anwesenheitspflicht. Da kriegen sie ihre Aufgaben, die Lehrer sind online und ansprechbar für Fragen. Vor allem in den ersten Klassen, also der fünften Schulstufe, gibt es einen Stundenplan, wo die Kinder jede Stunde von einem anderen Lehrer betreut werden und bestimmte Aufgaben machen müssen. Da sind die Lehrer auch durchaus unterschiedlich unterwegs – die einen lassen die Kinder selbstständiger arbeiten, die anderen leiten sie mehr an. Das kommt auch drauf an, mit den ersten Klassen haben wir online noch nicht so große Erfahrungen.

STANDARD: Das heißt, Sie bestellen zwei Drittel der Kinder aus pädagogischen oder sozialen Gründen zum Präsenzunterricht in die Schule herein?

Tiefenbacher: Ja, das ist bei uns an der Schule, an unserem Standort leider so, dass die Kinder entweder soziale oder leistungsmäßige Probleme haben. Da sind wir sicher wieder mal so ein Spezialfall, weil wir einfach ein Sammelsurium an Kindern mit vielen Problemen haben, die wir hereinholen müssen.

STANDARD: Was sagen die Kinder?

Tiefenbacher: Für die ist das klar. Es gab ganz wenige, die zu mir gekommen sind und gesagt haben: Ich will nicht in die Schule, ich will's daheim probieren. Gerade vorhin war ein Schüler aus der vierten Klasse da und hat gesagt: Bitte, lassen Sie es mich doch probieren. Und ich habe zu ihm gesagt: Du bist in der vierten Klasse, in der Abschlussklasse, wir haben jetzt drei Wochen Lockdown, dann haben wir noch zwei Wochen bis zu den Weihnachtsferien, danach haben wir drei Wochen Schule – und dann sollen wir den Kindern Noten geben ... Einige hätten in den nächsten drei Wochen die erste Schularbeit gehabt, das heißt, wir haben noch von gar nicht allen Schularbeiten. Diese Zeit ist enorm wichtig.

STANDARD: Hat in der Zwischenzeit jedes Kind einen Laptop, um digital arbeiten zu können? Das war ja im ersten Lockdown ein großes Problem.

Tiefenbacher: Ja, die Kinder haben großteils Laptops bekommen, sollen sie aufgeladen in die Schule mitnehmen und können dann da arbeiten und vom anwesenden Lehrer Unterstützung bekommen.

STANDARD: Was melden die Eltern zurück? Gibt es welche, deren Kind zum Präsenzunterricht soll, die zum Beispiel sagen: Bei uns wohnt die Oma, ich habe Angst und möchte, dass mein Kind nicht in die Schule geht?

Tiefenbacher: Da hätten wir gern eine ärztliche Bestätigung beziehungsweise dass die Eltern vorsprechen und wir schauen uns das an. Es wird sicherlich einige Kinder geben, die aus dem Grund nicht kommen, dann kann ich auch nichts machen. Ich kann ihnen nur ins Gewissen reden: Schauen Sie, wir wollen das nur im Sinne Ihres Kindes, weil wir uns Sorgen machen, wenn es nicht kommt und dann nicht mitkommt. Aber ich habe auch zwei Fälle, wo Geschwister lungen- beziehungsweise krebskrank sind, und da bin ich natürlich auch vorsichtig und sage: Ja, bitte dann nicht kommen, unterstützen Sie ihr Kind, indem sie Strukturen schaffen, aber lassen sie es zu Hause. Diesem Risiko bei Fällen, die wirklich ein erhöhtes Risiko haben, setze ich mich dann nicht aus.

STANDARD: Wie ist die Stimmung unter den Lehrerinnen und Lehrern?

Tiefenbacher: Ich habe am Sonntagabend zwischen halb sechs und halb acht eine Onlinekonferenz mit meinem Team gemacht, wo ich ein ausgeklügeltes System präsentiert habe, und mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, dass wirklich alle mitgezogen sind. Also kein Widerstand.

STANDARD: Der Widerstand gegen den Schullockdown hingegen war im Vorfeld sehr groß, es gab eine breite Front dagegen und auch eine sehr polarisierte Debatte zwischen denen, die die Schulen geschlossen haben wollten, und denen, die sie möglichst lang offen halten wollten. Wie haben Sie das erlebt?

Tiefenbacher: Ich war überrascht über den Lockdown, weil doch vom Bildungs- über den Gesundheitsminister bis zu Fachleuten aus Gesundheit und Bildung alle gesagt haben: Bitte noch nicht den Lockdown für die Schulen! Denn es hätte noch andere Möglichkeiten gegeben, wie zum Beispiel nach Ostern, da hatten wir die Kinder zum Beispiel prinzipiell einen Tag da, einen Tag nicht da. Da war quasi jeden zweiten Tag Anwesenheitspflicht. Das wäre mir als Zwischenstadium natürlich wesentlich lieber gewesen, weil wir schon Kinder haben, wo wir uns sorgen, dass da einfach eine zu große Wissenslücke entsteht, dass die zu wenig gefördert und gefordert werden, auch von zu Hause, wo vielleicht drei, vier Kinder leben und die Eltern nicht helfen können. Ich habe heute einen Vater da gehabt, der gesagt hat, er ist selber Analphabet. Der kann nicht mit dem Kind lernen. Und darum bin ich so froh, dass wir diese Kinder auffangen können mit diesem Schlupfloch, dass wir sie auch in die Schule bestellen dürfen – mit den nötigen Sicherheitsregeln.

STANDARD: Welche sind das?

Tiefenbacher: Nicht mehr als sechs Kinder in einer Klasse, sie tragen Maske, wenn sie nicht zwei, drei Meter rundherum Abstand halten zu anderen, Händewaschen, Lüften.

STANDARD: Ist die Maske bei Ihnen in der Schule ein Problem?

Tiefenbacher: Nein, bei den Kindern überhaupt nicht. Bei den Lehrern manchmal, die sagen, ich kann nicht unterrichten mit der Maske.

STANDARD: Was halten Sie eigentlich von Stimmen, die sagen: Habt euch doch nicht so, das sind doch nur drei Wochen und überhaupt nur 14 Schultage, das ist ja quasi nichts?

Tiefenbacher: Das Ganze geht ja schon seit Mitte März! Wir haben die Erfahrungen vom letzten Lockdown und wissen ganz genau, dass jetzt nicht nur der Lockdown erschwerend ist für die Kinder, sondern überhaupt diese ganze Corona-Zeit für sie eine schwierige ist. Und deswegen sagen wir, müssen wir ihnen ein System mit Regeln geben, weil Zehn- bis 14-Jährige sich ganz schwer selbst Strukturen schaffen können, um den Lernerfolg zu haben, den wir in der Schule erwarten. Wenn Distance-Learning so einfach wäre, dann könnten wir ja unseren Job infrage stellen. Darum ist Präsenz so wichtig, das haben wir im letzten Lockdown gesehen. Auch wenn ich da wieder sage: Es schaffen natürlich einige, und deswegen sind in der AHS wahrscheinlich die Kinder besser dran mit dem Homeoffice, weil sie auch Eltern haben, die sie aufwecken, die ihnen Frühstück machen, die ihnen sagen, du setzt dich jetzt hin und lernst – und jetzt machst du eine Pause. Aber diese Eltern haben wir nicht. Dieses geschützte Umfeld haben wir nicht. Unsere Kinder müssen sehr selbstständig sein, weil ihnen die Eltern nicht helfen können, weil sie sich zum Beispiel nicht mit Online-Programmen auskennen.

STANDARD: Haben Sie, Ihre Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Kinder und ihre Eltern, eigentlich Angst, dass sie sich in der Schule mit dem Coronavirus anstecken? Die erste Gurgelteststudie hat gezeigt, was für Public-Health-Experten jetzt nicht so rasend überraschend war, dass die Covid-19-Ansteckungshäufigkeit in Schulen mit hoher sozialer Benachteiligung signifikant höher ist. In diesen Index der sozialen Benachteiligung fließen etwa das Bildungsniveau der Eltern, ein Migrationshintergrund und die Alltagssprache in den Familien ein.

Tiefenbacher: Nein, wir haben keine Angst, weil wir wissen, dass wir alles tun, damit keine Ansteckung stattfinden kann. Ich messe sogar Fieber täglich beim Ankommen der Kids und der Lehrerinnen und Lehrer. Wir sind alle sehr achtsam, jetzt auch mit dem zusätzlichen Schutz durch Masken, dem Abstand und den Hygienemaßnahmen. Und wir kennen mittlerweile fast alle in unserem Umfeld Leute, die sehr vorsichtig sind und auch nicht wissen, woher sie es haben. (Lisa Nimmervoll, 17.11.2020)