Sein Speiseplan sieht jeden Tag gleich aus. Nach dem Aufstehen macht er sich ein Omelett aus drei Eiern, mittags isst er gebratenes Hühnerfilet ohne Beilage, abends gibt es Müsli. Zwischendurch gönnt er sich einen Proteindrink mit Haselnussgeschmack.

Die Mutter eines 16-Jährigen macht sich ein wenig Sorgen, wenn sie von den Essgewohnheiten ihres Sohns erzählt. Aber sie versucht, sich selbst zu beruhigen: Leon* wolle eben fit fürs Training sein, er spielt leidenschaftlich gerne Fußball. Für einen muskulösen Oberkörper macht er täglich eine halbe Stunde Bankdrücken. Als ihr Sohn jünger war, erzählt sie, sei er mollig gewesen und dafür gehänselt worden. Nun, da er sein Essverhalten nach einem strikten Plan ausrichtet, gehe es ihm besser.

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Ein Blick auf die Waage reicht nicht, um eine Essstörung festzustellen.
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Leon verzichtet kategorisch auf Süßes, nimmt sich bei Familienfesten sein Menü selbst mit und trinkt – wegen der vielen Kalorien – keinen Alkohol. "Cheating days", also gelegentliche Tage, wo Völlereien erlaubt sind, gibt es bei ihm nicht. Viele seiner eigens erschaffenen Regeln machen ernährungswissenschaftlich keinen Sinn. Leon hält sich dennoch daran. Alles eine Phase, glaubt die Mutter. Eine Essstörung hält sie nicht so recht für möglich. Denn Essgestörte, das sind doch Mädchen mit dürren Beinen und eingefallenen Wangen. Oder?

"Gute" und "böse" Lebensmittel

Ein Anruf bei Christof Argeny, Psychiater und ärztlicher Leiter von "Sowhat. Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen". Er nennt das Krankheitsbild Essstörung ein "extrem komplexes". Was er damit meint: Es gibt nicht den oder die Essgestörte/n. Was aber alle Betroffenen gemeinsam haben, sei, dass das Thema Essen immer mehr ihr Leben bestimmt und sie sich überdurchschnittlich viele Gedanken darüber machen. "Manche teilen Lebensmittel in 'gut' und 'böse' ein oder meiden einige komplett", sagt Argeny. Sie zerbrechen sich den Kopf darüber, was und wo gegessen wird – während andere Lebensbereiche wie Hobbys oder Freunde auf der Strecke bleiben. Dass sich ein Jugendlicher weigert, mit der Familie mitzuessen, sei ebenfalls typisch.

Das Gewicht kann, muss aber kein Merkmal sein, sagt Argeny. Bei Bulimie beispielsweise wechseln sich Essanfälle und Phasen des Nichtessens ab, häufig erbrechen Betroffene nach einer Essattacke. So kommt es, dass viele gar nicht so stark abnehmen. Auch der Zwang, unbedingt gesund essen zu wollen (genannt Orthorexie), ist eine Form von Essstörung, bei der Betroffene nicht unbedingt an Gewicht verlieren. Ein Blick auf die Waage reicht also nicht aus, um eine Essstörung festzustellen.

Viel eher braucht es einen prüfenden Blick auf die anderen Begleiterscheinungen. Das können Schlaf- und Konzentrationsprobleme sein, aber auch schlechte Haut, schlechte Zähne oder bei Mädchen das Ausbleiben der Regel. Früher als bei der Psychologin landen Betroffene daher oft bei der Hausärztin, beim Gynäkologen oder bei der Zahnärztin. "Sie sind manchmal die Ersten, die gefragt sind, das Problem zu erkennen und beim Namen zu nennen", sagt Argeny.

Pandemie als Katalysator

Was der Experte Eltern rät, die bei ihren Kindern ein merkwürdiges Essverhalten beobachten? "Wichtig ist, dass Sie es zum Thema machen, und zwar nicht, indem Sie Ihr Kind kritisieren." Diskussionen über richtiges Essen seien fehl am Platz. Besser sei es, seine Beobachtungen und Sorgen in Ich-Botschaften mitzuteilen und ganz einfach auszusprechen, was einem auffällt. "Wenn Sie sagen: 'Ich merke, dass du bestimmte Sachen nicht isst, und das macht mir Sorgen', kommt das bei Jugendlichen viel besser an."

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Besessen von gesundem Essen: Auch das ist eine Form von Essstörung.
Foto: getty images/Sonja Rachbauer

Weil Betroffene das Problem oft nicht gleich zugeben, gilt: "dranbleiben und immer wieder ansprechen". Auch Nerven und Kontrollieren sind absolute No-Gos, mahnt Argeny: "Ein Jugendlicher braucht auch seinen eigenen Bereich, seine Geheimnisse. Sich einzubringen und gleichzeitig dem Kind seine Autonomie zu lassen ist ein schmaler Grat." Echte Empathie kann helfen, nicht zu weit zu gehen, und geduldiges Zuhören dazu führen, dass das eigene Kind sich öffnet. "Sie müssen sich interessiert zeigen am Seelenleben Ihres Kindes."

Denn häufig stecken hinter einer Essstörung andere Probleme, weiß Argeny. "In der Pubertät ist vieles so ungewiss, so schwer zu kontrollieren. Und der eigene Körper ist ein Bereich, über den man Kontrolle erlangen kann." Auch die Corona-Krise wirkt als Katalysator: Weil sie psychisch stark belastet sind, essen viele viel zu viel – oder eben gar nichts mehr.

Obwohl ein Großteil der Betroffenen Mädchen und Frauen sind, nehme auch die Zahl der jungen Männer mit Essstörung zu, beobachtet Argeny. Viele hätten Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl und seien mit ihrer Figur unzufrieden. "Die Ernährungsumstellung und der Sport stärken sie. Sie nehmen ab, bekommen Komplimente, freuen sich, dass ihnen gelingt, was anderen nicht gelingt." Aber Vorsicht: Aus der gefühlten Kontrolle kann schnell ein unkontrollierbarer Zwang werden. (Lisa Breit, 16.3.2021)