US-Präsident Biden hat sein Ziel verdoppelt: In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit sollen 200 Millionen Impfungen verabreicht werden. Gut 90 Millionen Menschen wurden bereits einmal geimpft.

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In der Corona-Krise hat vieles für Europa gesprochen. Der Zugang zum Gesundheitssystem etwa oder die frühen Lockdowns. Warum sich die USA dennoch früher erholen, beleuchtet Ökonom Karl Aiginger im Gastkommentar.

Wir haben wieder eine Krise, nach der Banken- nun die Gesundheitskrise. Wieder scheinen die USA vieles schlechter zu machen. 2008 wurden wertlose Papiere gebündelt und verteilt, 2020 hat Präsident Donald Trump zunächst über das "China-Virus" gespottet und erst reagiert, als es tausende Tote gab.

Die US-Wirtschaft verlor 2008 zwei Prozent und erholte sich 2009 um fast den gleichen Betrag. Und dann ging es bergauf, plus zehn Prozent gegenüber dem Vorkrisenniveau waren rasch erreicht. In der Europäischen Union sank die Wirtschaftsleistung 2008 um vier Prozent und erholte sich im Folgejahr nur um zwei Prozent. Das Vorkrisenniveau wurde erst knapp vor der nächsten Krise überschritten.

In der Covid-19-Krise wiederholt sich dieses Bild. 2020 sank die Wirtschaftsleistung in den USA um 3,5, in Europa um 6,5 Prozent. Und für heuer erwarten die USA einen Anstieg um fünf Prozent. Das BIP wird also am Jahresende deutlich über dem Vorkrisenniveau liegen, zumal der Kongress gerade Joe Bidens 1,9-Billionen-Dollar-Paket verabschiedet hat. In Europa wird ein Zuwachs von vier Prozent erwartet, womit etwas mehr als die Hälfte des Rückgangs wettgemacht würde; wenn bis Sommer alle geimpft sind.

Amerikanische Flexibilität

Bei der Arbeitslosenrate ist die zyklische Komponente unterschiedlich. Sie verdoppelte sich in den USA im jeweils ersten Krisenjahr, von einem niedrigen Niveau aus, stieg dann 2009 auf neun und sank 2020 auf acht Prozent. In der EU war sie vor der Krise höher und legte dann jeweils um einen Prozentpunkt zu. Damit liegt sie 2020 in den USA und in Europa bei acht Prozent. Aber für die USA wurde für heuer schon vor Biden ein Rückgang auf sechs Prozent prognostiziert, in Europa steigt sie weiter Richtung 9,5 Prozent. Das Muster entspricht den Vorurteilen: Abfedern in Europa, Flexibilität nach unten in den USA zulasten niedrigster Einkommen, zugunsten rascher Erholung. Wieder sinkt die Beschäftigung stärker, Entmutigte verlassen den Arbeitsmarkt.

Was ist die Ursache dafür, dass die USA aus beiden Krisen besser herauskommen? Die traditionelle Makropolitik allein nicht wirklich. In der Finanzkrise hat die Geldpolitik auch in Europa "Koste es, was es wolle" proklamiert. Allerdings folgten Ankäufe von Wertpapieren erst spät im Jahr 2008 – die Fed hatte bereits Ende 2007 damit begonnen. In der EU mussten Widerstände in Deutschland überwunden und Rettungsprogramme für Krisenländer durchgepeitscht werden. Die Fiskalpolitik war in den USA trotz höherer Basisverschuldung deutlich expansiver. Das Budgetdefizit stieg von vier auf 13 Prozent; in der EU-27 von 0,5 auf sechs Prozent. Der Staatsschuldenzuwachs war ähnlich, aber das US-Niveau von 76 Prozent hätte in Europa Alarm auf den Finanzmärkten ausgelöst.

Vorteil Europa

In der Covid-19-Krise ist der Budgetimpuls zunächst gleich stark und schnell. Das Defizit steigt noch vor den Hilfspaketen zwischen 2019 und 2021 jeweils um acht Prozent, in Europa von 0,5 auf 8,5 Prozent, in den USA von sieben auf 15 Prozent. Auch das Wachstum der Staatsschuld ist etwa gleich (17 bzw. 15 Prozent). Das Niveau steigt allerdings damit in den USA auf 128 Prozent und in der EU auf 94 Prozent des BIP. Und das Biden-Paket ist groß und wirkt über Direktzahlungen schnell.

Da Geld- und Fiskalpolitik in der derzeitigen Krise weder im Tempo noch im Ausmaß sehr unterschiedlich sind – zumindest vor dem Kraftakt Bidens –, brauchen wir andere Erklärungen. Zumal vor der Covid-19-Krise vieles für Europa gesprochen hätte: verringerte Schulden, aktive Handelsbilanz, Zugang zum Gesundheitssystem, kein Trump und Rassismus, frühe und regional angepasste Lockdowns. Der Wiederaufbaufonds war rasch beschlossen, allerdings mit geringerem Volumen und langsamer Umsetzung. Woran liegt es also?

· Hypothese 1: Psychologie: Europäer sehen immer Probleme, US-Amerikaner Chancen. Sie erwarten, dass neue Probleme schnell gelöst werden, sei es von starken Firmen, dem Bundesstaat, der Regierung. Und wer auch immer Präsident ist, wird immer bedenkenlos die US-Wirtschaft stützen.

· Hypothese 2: Innovationskraft: Die EU-Forschungsausgaben sind um ein Drittel niedriger, nun auch geringer als in China. US-Universitäten entwickeln radikale Innovationen. Bei Fehlern ist ein zweiter Versuch selbstverständlich, wer keine Krise erlebt, hat zu wenig versucht.

· Hypothese 3: Veränderung als Norm: Jobs, Wohnort, Technologie werden und können sich ändern. Europa hat hohe Sozialleistungen – und diskutiert ihre Erhöhung. Eine progressive Sozialpolitik durch Befähigung und breitere Ausbildung wird nicht versucht. Die USA geben hohe Einmalzahlungen, weil ja ein Wechsel notwendig ist.

· Hypothese 4: Weltreservewährung: Reserven werden in US-Dollar gehalten, Transaktionen in US-Dollar verrechnet, auch wenn die USA nicht beteiligt sind. Schulden der USA sind kein Problem, weil die Fed ja für Rückzahlungen Geld drucken kann. Hoffnungen von US-Ökonomen, dass der Euro eine Fehlgeburt ist, sind nicht ganz verstummt.

· Hypothese 5: Nationale Zwischenrufe entwerten die europäische Politik, in den USA ergänzen oder korrigieren Bundesstaaten die falsche Politik des Präsidenten. Emmanuel Macron will Erholung, aber mit Atom- und Waffenlieferungen, und bremst den Beitritt des Westbalkans. Angela Merkel war der Turm in der Schlacht, aber ein Ausstiegsdatum aus Verbrennern oder Kohle darf es nicht geben. Viktor Orbán bekommt hohe Wirtschaftshilfe und versucht einen Rechtsblock im EU-Parlament zu bilden. Mario Draghi führt eine Koalition, für Süditalien fehlt jedes Konzept. Österreich will Klimavorreiter sein, zögert aber mit CO2-Bepreisung und Steuerreform. Klimafeindliche Subventionen und landwirtschaftliche Überproduktion kosten überall Geld.

· Hypothese 6: Impfgeschwindigkeit: Die EU agiert in der Covid-19-Krise angesichts geringer Kompetenzen nicht schlecht. Ein Konzept, wie Impfstoff rasch erzeugt, geliefert, verteilt wird, fehlt aber. Beim Impfstoffkauf zweifelt Europa, ob die Kommission gut verhandelt hat. Die Operation Warp Speed hat in den USA 18 Milliarden US-Dollar für Forschung lockergemacht, die EU nur 1,2 Milliarden. Europa diskutiert, ob ein Impfstoff für Ältere geeignet ist. Die Unterstützung Afrikas durch Europa ist minimal, eine ungenutzte Chance, vergangene Fehler vergessen zu lassen.

· Hypothese 7: Tempo: Entscheidungen müssen in der EU meist einstimmig sein. Erfolge werden national erklärt, Probleme als Fehler der EU. Der direkte Hebel durch das EU-Budget liegt bei nur einem Prozent der Wirtschaftsleistung, andere Mittel müssen durch Kompromisse freigemacht werden. Der US-Präsident kann schnell große Ausgaben anordnen, Steuerhöhe und -struktur verändern – auch ohne Mehrheit im Kongress.

Wieder steigt Amerika besser aus der Krise aus, weil es entschlossener agiert. Das muss Europa lernen. (Karl Aiginger, 29.3.2021)