Sebastian Kurz und Werner Kogler waren zuletzt nicht immer eins. Beim Sommerministerrat am Mittwoch spazierten sie wieder im Gleichschritt.

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Es gibt dieses Gerücht, das sich hält, obwohl es immer und immer wieder bestritten wird. Man hört es vor allem aus jenem Segment des politischen Betriebs, das Journalistinnen und Journalisten "die zweite Reihe" nennen. Also von Politikerinnen und Politikern, die zwar nicht im direkten Umfeld des Kanzlers oder Vizekanzlers arbeiten, die aber doch nah genug dran sind, um einiges mitzubekommen. In dieser zweiten Reihe sind sich einige ziemlich sicher: Diese Koalition wird nicht bis 2024 halten, womöglich platzt sie schon bald.

Das Gerücht – oder auch "Neuwahlgespenst", wie manche sagen, die es vertreiben wollen – hat kürzlich aber eine neue Flugrichtung bekommen. Die aktuellste Erzählart lautet in etwa so: Sebastian Kurz, der Kanzler und ÖVP-Chef, sei durch die Ermittlungen und Chats so angeschlagen, dass er in Teilen der Volkspartei die grünen Minimalforderungen im Klimaschutz nicht durchsetzen könne. Das habe man bei der Evaluierung der anstehenden Straßenbauprojekte durch die grüne Umweltministerin gesehen. Prompt musste Kurz ausrücken, um den Bau einer Vorarlberger Schnellstraße zu verteidigen und Klimaschutz ohne Verzicht zu propagieren. Man sehe das auch bei den Verhandlungen rund um die ökosoziale Steuerreform – das grüne Prestigeprojekt: Da gehe nichts weiter.

Das Resultat sei logisch, ist mancher Kritiker überzeugt: An einer Klimaschutzpolitik, mit der beide Seiten die eigenen Leute befrieden könnten, werde die Koalition scheitern. Und im Frühjahr – wenn die Oberösterreich-Wahl längst geschlagen ist – werde gewählt.

Länder werden mutiger

Aber könnte das tatsächlich ein realistisches Szenario sein? Brodelt es überhaupt wirklich in der Volkspartei? Und hat Kurz inzwischen intern ein Problem?

Fest steht: Als Parteichef ist er in der ÖVP weiterhin unumstritten. Was aber auffällt: Die Länder und Bünde sind wieder mutiger geworden. Die peinlichen Chatprotokolle, die Anklage, die Kurz wegen falscher Zeugenaussage im U-Ausschuss droht, die rüde Art, wie hohe Repräsentanten der katholischen Kirche herabgewürdigt wurden – das alles hat den Kanzler parteiintern geschwächt. Und das ließ wiederum die schwarzen Landeshauptleute erstarken. Sie trauen sich wieder, ein wenig Kritik zu üben.

Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer rügte die Bundespartei, dass die Justiz "nicht zu einem Spielball politischer Interessen" verkommen oder "gar als Zielscheibe für Angriffe herhalten" könne. Vorarlbergs Landeschef Markus Wallner betitelte die türkisen Chats als "irgendwie außerirdisch". Es sei auch der Stil, der "unbehaglich" mache. Die Angriffe auf die Justiz habe man mit Kurz intern besprochen und ihn "gebeten, in diesen Fällen etwas zurückhaltender zu sein".

Enttäuschung und Jubel

Aber auch aus der ÖVP-nahen Wirtschaft kommt Gegenwind. Erwin Hameseder, Obmann der Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien, polterte in der Presse, der Streit um eine unabhängige Justiz bis hin zur Besetzung der Staatsholding sei "eine Katastrophe". Das komme bei der Bevölkerung nicht gut an und "bei mir auch nicht", urteilt der Bankenboss. "Da tut sich die Politik nichts Gutes."

Vor zwei Monaten hat erstmals auch jemand aus dem Kreis der potenten Unterstützer von Kurz Kritik an der türkisen Parteiführung geübt. Der Industrielle Jochen Pildner-Steinburg, ein einstiger Kurz-Spender, erklärte im Gespräch mit dem STANDARD, er habe sich vom Kanzler "tief enttäuscht" abgewendet. Vornehmlich der Stil der türkisen Parteispitze sei es, mit dem er nicht mehr könne. Dieser Eindruck habe sich zuletzt noch verstärkt, sagt Pildner-Steinburg heute. Er erzählt auch: "Ich habe für meine damals geäußerte Kritik, zu der ich nach wie vor stehe, sehr viel Zuspruch bekommen, aus der Wirtschaft, der Spitzenbeamtenschaft, auch aus der ÖVP. Man hat sich gefreut, dass das endlich wer sagt." Pildner-Steinburg wundere es, dass alle in Deckung bleiben. "Jeder hat eine Ausrede, warum er sich nicht öffentlich äußert. Dabei ist einiges im Busch."

In der Partei selbst herrscht – bis auf die einzelnen kritischen Anmerkungen der Landeshauptleute – eine beinahe gespenstische Ruhe. Wer bei lokalen Funktionären und Regionalpolitikern nachfragt, hört aber: Es brodelt – auch wenn es noch kaum jemand wagt, sich namentlich zu äußern. Ein nicht unbekanntes ÖVP-Mitglied aus der Obersteiermark sagt: "Wenn ich mit Parteifreunden reden will, schütteln alle nur den Kopf und verdrehen die Augen, sobald das Thema auf Kurz fällt. Ich höre immer nur: Lass mich in Ruhe mit diesen Wiener Sachen." Früher sei man in der Partei und in den Gremien zusammengesessen und habe diskutiert, inzwischen habe keiner mehr Lust darauf. "Wir sind alle irgendwie in Schockstarre. Ich weiß nicht, wo Kurz hinwill. Viele haben auch Angst, was die Zukunft für die ÖVP bringen wird, dass mit der Partei etwas schiefgehen könnte."

In der Bundes-ÖVP-Führung ist die Wahrnehmung eine völlig andere – denn die Resonanz sei unverändert gut: "Die Rückmeldungen aus den Ländern, Teilorganisationen wie auch aus der Bevölkerung sind super", sagt der türkise Generalsekretär Axel Melchior. Natürlich ließen sich immer Einzelne finden, die wegen irgendetwas unzufrieden seien, "aber wir haben 700.000 Mitglieder, das müssen wir aushalten".

Viele Themen, die medial oder auf Twitter für Aufregung sorgten, würden die allermeisten Österreicherinnen und Österreicher kaum berühren, ist der Parteimanager überzeugt. Die ÖVP-Zentrale bekomme pro Jahr etwa 100.000 Mails von Bürgern. "Das ist ein extrem sensitives Tool", sagt Melchior. Als etwa die Schulen geschlossen wurden, habe es unzählige Zuschriften gegeben. Die veröffentlichten Chats der türkisen Führungsriege? "Dazu kommt bis heute fast nichts."

Und dann gibt es noch etwas oder eigentlich jemanden, der in der ÖVP-Führung für Ruhe und Zuversicht sorgt: Dr. Sommer. Der Meinungsforscher Franz Sommer erstellt für die ÖVP seit vielen Jahren Umfragen und Prognosen. Schon zu Beginn der Krise habe er recht präzise vorhergesagt, was dann auch passiert sei: Zuerst würden sich viele Menschen mit der Regierung solidarisieren und die Umfragewerte für die ÖVP ordentlich steigen. In der Phase der Unzufriedenheit mit der Krise komme es zu einer Talsohle der Beliebtheit. Aber, habe Sommer vergangenes Jahr erklärt: Sei die Krise vorbei und die ÖVP liege in Umfragen bei über 30 Prozent, dann sei für die kommende Nationalratswahl ein noch besseres Ergebnis als 2019 möglich. Damals kam die Volkspartei auf 37,5 Prozent. In aktuellen Umfragen liegt sie zwischen 31 und 35 Prozent.

Keine Alternativen

Melchior versichert aber: "Es wird keine vorgezogenen Neuwahlen geben." Mit den Grünen habe man vergangenes Jahr die Corona-Krise durchgestanden, das verbinde, bei allen inhaltlichen Differenzen.

Auch der erfolgreiche Bürgermeister vom oststeirischen Gleisdorf, Christoph Stark, der für die ÖVP zudem im Nationalrat sitzt, will von einer Stimmung gegen Kurz nichts wahrgenommen haben. Er treffe "viele Bürgermeister, Ortsparteivorsitzende und Bezirksfunktionäre", und die seien allesamt "eigentlich ziemlich entspannt". Allerdings nehme er schon "in Summe Sorge" wahr. "Es geht um das allgemeine Bild der Politik. Dass Politik mit Anzeigen bei der Justiz gemacht wird, das färbt auf die allgemeine Akzeptanz der Politik ab", sagt Stark. Der Streit um die und mit der Justiz trübe jedenfalls auch die Stimmung in der Basis der Volkspartei.

Das in der ÖVP gut verankerte obersteirische Parteimitglied hat noch ganz andere Sorgen: "Es ist ja niemand da hinter dem Kurz. Wer soll es denn im Falle des Falles machen? Keiner will, dass das in einer Katastrophe oder in Neuwahlen endet." Die meisten in der Volkspartei würden hoffen, dass sich dieser Sommerwind einfach bald wieder legt. (Katharina Mittelstaedt, Walter Müller, 31.7.2021)