Gebannt verfolgt nicht nur die deutsche Öffentlichkeit die völlig unerwarteten Wendungen bei der Beurteilung sowohl der Spitzenkandidaten als auch der Parteien. Man hatte in fast allen Medien noch im Frühjahr mit einem Zweikampf zwischen der CDU/CSU und den Grünen beziehungsweise deren Spitzenkandidaten Armin Laschet und Annalena Baerbock gerechnet. Die Aufstellung von Olaf Scholz, dem SDP-Vizekanzler und Finanzminister der Koalitionsregierung, als Spitzenkandidat löste im August 2020 nur spöttische Reaktionen aus, zumal die Mehrheit der SPD-Mitglieder bei ihrer Abstimmung Ende 2019 ihn nicht als Parteivorsitzenden wollte.

Mit dem Rückzug Angela Merkels und der Zersplitterung der Parteienlandschaft ist die politische Stabilität in Deutschland zu Ende.
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Angesichts der zum Wochenende veröffentlichten Zahlen des ZDF-Wahlbarometers und anderer Umfragen erscheint es nicht übertrieben, dass der Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung sogar von einer "riesigen Dramatik dieser Veränderung" spricht. Je nach Umfrage käme die CDU/CSU nur noch auf 25 oder 26 Prozent, während die SPD mit 19 beziehungsweise 20 Prozent erstmals die Grünen überholen würde. Der Abwärtstrend der Union und der Grünen geht seit Wochen weiter, während die FDP bei zwölf Prozent verharrt.

Diese Dynamik der Verschiebungen spiegelt vor allem die Unbeliebtheit des Spitzenkandidaten der CDU/CSU, Armin Laschet, den nur noch 21 Prozent (minus acht Prozent in zwei Wochen) als Kanzler wünschen. Auch für Annalena Baerbock von den Grünen sprechen sich bloß 16 Prozent (minus vier) aus, während Olaf Scholz seinen Vorsprung weiter auf 44 Prozent (plus zehn) ausgebaut hat. Niemand hätte dem 63 Jahre alten Finanzminister und ehemaligen Bürgermeister von Hamburg diesen Erfolg zugetraut.

Schlüsselrolle

Trotz aller statistischen Fehlerquellen bei solchen momentanen Meinungsbildern zeigen die übereinstimmenden Zahlen der Meinungsforscher, dass eine "Zweierkoalition" (CDU-Grüne oder SPD-Grüne) wahrscheinlich keine Mehrheit haben könnte. Die Kombinationen über Koalitionsmöglichkeiten lassen die sich abzeichnende Schlüsselrolle der Liberalen erkennen. Nach einem aussichtslosen Start entpuppt sich Olaf Scholz jedenfalls als möglicher Kanzler einer Dreierkoalition.

Die Entwicklung zeigt mit aller wünschenswerter Deutlichkeit, dass in der modernen Parteipolitik nicht Programme, sondern in erster Linie die Persönlichkeiten entscheidend sind. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wäre sicherlich ein überzeugenderer Wahlkämpfer gewesen als der farblose und verunsicherte Laschet. Auch bei den Grünen hätte der erfahrene Co-Vorsitzender Robert Habeck bessere Chancen gehabt, über die Stammklientel hinaus Wechselwähler zu gewinnen, als die nur bei den Kernschichten populäre Annalena Baerbock.

Mit dem Rückzug Angela Merkels, der mit Abstand noch immer populärsten deutschen Politikerin, und mit der Zersplitterung der Parteienlandschaft ist die politische Stabilität im wichtigsten EU-Staat unwiderruflich zu Ende.

In Deutschland ist nach dem Wahltag am 26. September alles möglich. Die Folgen für die Zukunft der Europäischen Union und ihrer Beziehungen zu den Diktaturen in China und Russland sind auch unberechenbar. (Paul Lendvai, 17.8.2021)