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Zwölf bis 24 Prozent der Schwangeren verlieren ihr Kind in den ersten Wochen. Obwohl das Thema viele betrifft, sprechen nur wenige darüber. Zu groß ist die Trauer.

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Es beginnt mit Blut. Sie gehen auf die Toilette, und plötzlich ist überall Blut. Sie erschrecken. Es ist eines der wenigen Male in Ihrem Leben, wo Ihr Mund redet, ohne dass Sie ihn kontrollieren können. Immer wieder sagt Ihr Mund: "Oh nein, bitte, bitte nicht."

Ihr Freund war gerade unterwegs, um Ihnen einen Kuchen zu kaufen. Sie hatten solchen Appetit darauf. Sie rufen ihn an. Sie schluchzen: "Ich blute." Er kommt zurückgelaufen. Er hält Sie, während Sie weinen.

Sie rufen Ihre Frauenärztin an. Sie schickt Sie ins Krankenhaus. "Vorsichtshalber", sagt sie. "Es muss nichts sein", sagt sie. Sie fahren ins Krankenhaus. Sie sagen: "Ich blute." Sie sagen: "Ich bin schwanger." Die Ärztin untersucht Sie. Sie dreht den Bildschirm des Ultraschallgeräts zu Ihnen. "Da kommt es gleich", sagt sie, "gleich sehen Sie Ihr Baby."
Die Ärztin sucht mit dem Ultraschall nach Ihrem Baby.

Die Ärztin sucht. Sie beten.
Die Ärztin sucht. Sie beten wie damals, als Sie Gott um gute Noten gebeten haben.
Die Ärztin sucht. Sie fangen an, Gott Sachen zu versprechen, wenn er nur das Baby gesund sein lässt.

Die Ärztin dreht den Bildschirm zu sich. Die Ärztin sucht weiter. Sie versprechen Gott alles, wenn er nur dieses Baby gesund sein lässt. Die Frauenärztin findet Ihr Baby. Sie denken: "Bitte, bitte lass es in Ordnung sein." Die Ärztin dreht den Bildschirm zu Ihnen. Sie sehen einen grauen kleinen Schatten. Die Ärztin erklärt, dass ein Herzschlag flimmern müsste. Es flimmert nichts.

"Es ist in diesem Fall leider eine Fehlgeburt", sagt die Ärztin. Und Sie schauen an die Decke, weil Sie wissen, dass sich so Tränen zurückdrängen lassen. Aus Reflex antworten Sie so, wie Sie in Stresssituationen antworten: "Es ist okay." – "Nein, es ist nicht okay", antwortet die Frauenärztin.

Und dann lassen sich Ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Obwohl Sie sonst nicht einmal vor Ihren besten Freunden weinen. Sie unterdrücken ein Schluchzen, aber die Tränen laufen. Die Tränen laufen, während Sie sich anziehen. Sie laufen weiter, während die Ärztin erklärt, dass Sie nicht schuld sind. Dass niemand Schuld hat. Dass so etwas einfach passieren kann.
Die Ärztin verabschiedet Sie und möchte Sie zum Ausgang begleiten. Sie sagen, dass Sie kurz auf die Toilette müssen.

Keine Fehlgeburt wie in einer Soap

Sie weinen in einer Krankenhaustoilette. Sie schauen in den Spiegel und sehen rote Augen und ein verquollenes Gesicht.

Sie fahren nach Hause. Ihr Freund wartet dort. Sie sagen: "Ich habe es verloren." Sie sagen: "Es tut mir leid." Und er hält Sie. Auch er sagt immer wieder, dass Sie keine Schuld haben. Er sagt, dass alles gut wird. Sie weinen lange. Als Sie denken, dass Sie nicht mehr weinen können, rufen Sie Ihre Mutter an. Über hunderte Kilometer hinweg umarmt ihre Stimme Sie. Und obwohl Sie eigentlich nicht mehr weinen können, schluchzen Sie wieder. Sie sagen: "Mama, ich habe es verloren." Ihre Mutter spinnt mit ihrer Stimme eine Decke, unter der Sie sich geborgen fühlen. Sie sagt, dass alles gut wird.
Sie sprechen mit Ihrem Vater. Er sagt, dass alles gut wird. Wenn die Stimme Ihrer Mutter eine Decke ist, ist die Ihres Vaters ein Feuer, das Sie zusätzlich wärmt: Ihr Vater macht einen so schlechten Witz, dass Sie lachen müssen.

Sie legen Ultraschallbilder der ersten Wochen in die hintersten Winkel einer Lade. Sie löschen eine App, die Ihnen täglich Infos zu Ihrem Baby gegeben hat. Sie wollen, dass mit der Diagnose alles vorbei ist. Aber Sie müssen lernen, dass Fehlgeburten nicht so ablaufen wie in Seifenopern. Sie müssen warten, dass das Gewebe abgeht. Sie nennen es Gewebe, weil Sie beim Wort Baby weinen müssen.

Sie bekommen einen Termin im Krankenhaus. Ihre schlimmste Angst ist, dass Sie auf der Geburtsstation sein werden. Sie können nicht atmen, wenn Sie daran denken, neben Neugeborenen zu liegen.

Sie haben Glück. Sie liegen auf einer anderen Station. Sie bekommen Tabletten. Sie wirken, bevor es das Schmerzmittel tut. Der Schmerz in Ihrem Inneren ist so stark, dass Sie sich auf dem Bett zusammenkrümmen. Sie drehen sich zum Fenster und weinen leise.
Dann kommt das Blut. Sie bluten stundenlang. Stundenlang ist es nicht genug. Sie verfluchen Ihren Körper. Verfluchen, dass er dieses Baby nicht lange genug halten konnte. Verfluchen, dass er es nun nicht loslassen will.

Sie bluten weiter. Erst am nächsten Tag entscheiden die Ärzte, dass es genug war. Sie dürfen nach Hause. Sie werden Ihre Wohnung tagelang nicht verlassen.

Sie weinen und weinen

Das Leben geht weiter. Sie wissen das. Aber es interessiert Sie nicht. Immer, wenn Sie daran denken, wie grau und still Ihr Baby auf dem Ultraschallbild ausgesehen hat, müssen Sie weinen. Sie denken oft daran. Sie weinen oft.

Sie weinen im Bad. Sie weinen auf der Toilette. Sie weinen auf der Couch. Sie weinen beim Spazierengehen. Eine Freundin schickt Ihnen einen Strauß mit weißen Blumen. Sie weinen. Sie können nicht denken. Gleichzeitig können Sie nur daran denken. Sie weinen.
Ihr Freund fragt Sie ständig, wie es Ihnen geht. Ihre Familie ruft Sie an. Sie versuchen, Sie abzulenken. Gleichzeitig hören Sie die Sorge in Ihren Stimmen.

Sie lesen Ratgeber über Trauer. Sie lesen, dass sie in Wellen kommt. Eigentlich würden Sie über die abgedroschene Metapher lachen. Aber Sie haben an manchen Tagen das Gefühl, in Ihrer Trauer zu ertrinken.

Das Leben geht weiter. Sie wissen das. Und es ist Ihnen langsam weniger egal. Ein paar Wochen nach der Fehlgeburt gehen Sie zum ersten Mal wieder mit Ihrem Hund spazieren. Er tanzt vor Aufregung um Sie herum.

Wochen später stirbt Ihr Großvater. Sie stehen an seinem Grab und weinen um den Menschen, der er war. Sie weinen auch um Ihr Baby: Ob es ihm wohl ähnlich gewesen wäre? Hätte es seine traurigen Augen gehabt? Sie weinen darum, wer das Baby hätte sein können. Sie weinen darum, dass sich diese Menschen nie begegnet sind.

Das Leben geht weiter. Sie bemühen sich, Schritt zu halten. Sie sprechen darüber. Sie schaffen es, Ihre Tränen zu kontrollieren. Sie können zum ersten Mal lachen und es wirklich so meinen. Sie denken aber weiterhin jeden Tag daran.
Sie denken, Sie haben es nun unter Kontrolle.

Dann schauen Sie eine belanglose Serie. Ein Kind ist in Gefahr. Sie halten es nicht aus. Sie weinen, als hätte jemand an einer schlecht heilenden Wunde gerüttelt.
Sie lernen, dass die schlechte Metapher stimmt. Die Trauer überkommt Sie in Wellen. Tage, an denen Sie zu ertrinken drohen, werden weniger. An guten Tagen zieht sich das Wasser zurück. Aber selbst an den besten stehen Sie bis zu Ihren Knöcheln darin. (Ana Grujić, 2.11.2021)