Wer braucht schon Allradlenkung? Wer braucht schon Allradantrieb? Und wer bittschön braucht gleich beides? Genauso können wir fragen, wer braucht schon ein Reserverad? Irgendwann aber wird jemand kommen, der uns das angetriebene und vielleicht sogar gelenkte Reserverad auch noch andrehen will, bevor sich unser ganzes Leben endgültig ins Virtuelle verlagert.

Ist schon klar: Für Arbeitsmaschinen und Kriegswerkzeuge kann Allradantrieb, sogar Allradlenkung, grundsätzlich von Bedeutung sein. Es gibt auch winterliche Straßenzustände, die im ganz normalen Alltag mitunter Allradantrieb einfordern. Zumindest kann man sich damit das Anlegen von Schneeketten ersparen. Und Allradlenkung? Na ja, die meisten Autos auf der Welt kommen sowohl ohne das eine als auch ohne das andere aus.

Kommando Zielkonflikte

Und es gibt doch Gründe für beides, wenn auch keine schmeichelhaften, immerhin plausible. Allradlenkung und Allradantrieb sind zum Beispiel probate Mittel, die Folgen überbordenden automobilen Wohlstands auszugleichen. Ein rekordverdächtiges E-Auto wie etwa der Mercedes EQS mit dem besten Luftwiderstandsbeiwert cw 0,20 ist 5,20 Meter lang. Das ist nach der alten Seglerweisheit unabdingbar: Länge läuft. Je länger ein Auto, umso leichter fällt es der Designabteilung, das Vehikel geschmeidig in den Wind zu zeichnen. Wenig Luftwiderstand bedeutet wenig Energieverzehr bei hohem Tempo. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Noch gravierender ist ein anderes Phänomen: Die Surfbrettarchitektur der neuen Elektroautos verlangt nach einem möglichst langen Radstand, wenn man sehr viele Batterien zwischen den Achsen unterbringen will.

Allradantrieb und -lenkung zu kombinieren ist nicht ganz neu. Das konnte schon der 1937 bis 1941 gebaute Mercedes G5 Kübelwagen. Heute ist Allradlenkung besonders bei Autos jenseits der Fünfmetermarke sinnvoll, mit langem Radstand und Allradantrieb.
Foto: Daimler AG

Und plötzlich übernehmen die Zielkonflikte das Kommando. Das Fahrzeug ist mit 5,20 Meter körperlich schon sehr lang bei gleichzeitig respektabler Breite. Der enorme Radstand von über drei Metern erweitert den Wendekreis der Limousine bedenklich. Der zusätzliche Antrieb an der Vorderachse verhindert eine Verschärfung des Einschlagwinkels an den Vorderrädern, um dieses Manko auszugleichen.

Fazit: Das Auto würde in der nächstbesten Norm-Parkgarage einfach irgendwo stecken bleiben. Also müssen die Hinterräder auch gelenkt werden, weil die Vorderräder alleine den erforderlichen Mindestwendekreis nicht schaffen. Eigentlich eine traurige Geschichte. Nüchtern betrachtet: Sehr große Autos wären ohne Allradlenkung in Parkhäusern nicht benützbar und an der Erdoberfläche nicht so leichtfüßig und geschmeidig zu fahren.

Weil ein Problemszenario für Ingenieure nicht so gut ankommt wie beim Publikum, wird eine hübsche Erzählung rundherum gestrickt, die wir eh viel lieber hören, zumal sie auch noch mit tadellosen und zweifellos objektiven Messwerten unterfüttert ist. Durch das gleichsinnige Mitlenken der Hinterachse bei hohen Geschwindigkeiten können abrupte Ausweichmanöver wesentlich sicherer ablaufen.

Leichtfüßige Art

Wer viel Geld hat, kann es sich leisten, nicht auf seine (oder ihre) Sicherheit zu achten? Auch die leichtfüßige Art sei erwähnt, wie man beim Billa sozusagen kerzengerade ums Eck biegen kann, weil die Räder bei niedrigen Geschwindigkeiten gegensinnig einschlagen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass man wie schon gesagt in der Tiefgarage vom Einkaufszentrum nicht stecken bleibt. Außerdem sucht sich die Felge rechts (wie links) ihren eigenen Sicherheitsabstand zum Randstein, um sich vor Kratzern zu verschonen, schließlich würde eine Garnitur so viel wie ein neuer Kleinwagen kosten.

Allradlenkung mit Allradantrieb, ein Wunderwerk der Technik? Nein, heutzutage eine Aufwärmübung für Ingenieure mit Computerdesign – und für Autos mit ausschweifenden Körper maßen geradezu eine Notwendigkeit, trotz superlativer Eigenschaften einen ganz normalen Alltag zu durchqueren. (Rudolf Skarics, 6.12.2021)