Sebastian Kurz zieht sich aus der Politik zurück.

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Selbst manch langjähriger Weggefährte erfuhr erst davon, als die Sache längst entschieden war und kurz bevor die ersten Medienberichte aufpoppten: Sebastian Kurz zog sich am Donnerstag überraschend aus der Politik zurück. Der ehemalige Bundeskanzler kündigte zuerst intern seinen Rücktritt von allen politischen Spitzenfunktionen sowie als Vorsitzender der Volkspartei an. Schließlich trat er vor die versammelte Presse.

Der Schritt erstaunte viele, nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern auch den Koalitionspartner – mussten doch zumindest einige grüne Abgeordnete vom Rücktritt des Kurz aus der "Kronen Zeitung" erfahren.

Selbst innerhalb der ÖVP kam die Ankündigung überraschend: Innerparteilich schloss man zwar schon seit geraumer Zeit nicht aus, dass Sebastian Kurz infolge der sogenannten Inseratenaffäre irgendwann von sich aus alles hinschmeißen werde. Zu lange könnten die Ermittlungen dauern, immer aussichtsloser erschien daher eine Rückkehr ins Kanzleramt. Allerdings, davon gingen Türkise in Hintergrundgesprächen in den vergangenen Wochen immer aus, werde noch einige Zeit ins Land ziehen, bis diese Einsicht auch beim Altkanzler selbst sickern werde. Am Ende sollte es doch schon früher so weit sein.

Nach zehn Jahren in der Welt der Politik lud Kurz gestern ein letztes Mal ins Springer-Schlössl im zwölften Bezirk, dort ist die ÖVP-Parteiakademie untergebracht. Auffällig war, dass keine einzige Ministerin und kein einziger Minister aus den Reihen der Schwarzen den Abschiedsworten ihres baldigen Ex-Chefs vor Ort lauschten. Im Oktober hingegen, als die Korruptionscausa aufkam, unterschrieb noch die gesamte Regierungsmannschaft eine Erklärung, laut der eine Bundesregierung nur mit Sebastian Kurz an der Spitze möglich sei.

Der Faktor Baby

Kurz formulierte seine Beweggründe, als er am Donnerstag gegen Mittag eine "persönliche Erklärung" abgab, so: Seine Leidenschaft für Politik sei zuletzt geschrumpft, seine "Flamme ein bisschen kleiner geworden". Politik, so resümierte er, müsse mit 100 Prozent Begeisterung gemacht werden, die sei bei ihm in den letzten Tagen, Wochen und Monaten aber weniger geworden. Zuletzt, beklagte er, sei es jedoch im politischen Alltag vor allem um die Abwehr von Unterstellungen und Verdächtigungen gegangen.

Gründe für seinen Rücktritt nannte der 35-Jährige noch weitere – allen voran seinen Sohn, Konstantin, der am vergangenen Samstag zur Welt kam. "So ein Baby kann man stundenlang anschauen und ist froh und glücklich darüber", sagte der Jungvater. Die Geburt seines Sohnes habe sogar die zwei erfolgreich geschlagenen Wahlkämpfe getoppt. Die Familie soll fortan ganz im Zentrum stehen, zum Jahreswechsel tritt Kurz außerdem einen neuen Job an. Welchen, ist noch nicht bekannt. In der ÖVP munkelt man von einem internationalen Topjob.

Kurz räumte auch Fehlentscheidungen seinerseits ein, sagte aber gleichzeitig: "Ich möchte nicht behaupten, dass ich nie etwas falsch gemacht habe." Er hielt außerdem fest: "Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher. Ich bin ein Mensch." Und er sprach von einer Jagd auf seine Person. Viel konkreter wurde er dabei nicht, zwischen den Zeilen war aber klar, wen er damit meinte: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, der Kurz des Öfteren "rote Netzwerke" attestiert hatte, ermittelt seit Monaten gegen ihn – und zwar wegen Falschaussage und Korruptionsdelikten. Ausgerechnet an diesem Donnerstag wurde auch ein ÖVP-Korruptionsuntersuchungsausschuss in die Wege geleitet. Die Leitung des ÖVP-Klubs soll wieder an August Wöginger übergehen, in den nächsten Wochen werde er "eine geordnete Übergabe all meiner Funktionen sicherstellen", kündigte Kurz an.

Der kleine Koalitionspartner blieb am Donnerstag auffällig ruhig: Der grüne Bundessprecher und Vizekanzler Werner Kogler bekundete "ganz, ganz großen" Respekt für die Entscheidung. Am grünen Regierungsteam, so sagte Kogler auch, würden die jüngsten Entwicklungen nichts ändern. Wechsel stehen auf türkiser Seite hingegen nun einige an.

Personalrochade

Wie die Personalrochade genau aussehen soll, wird beim Bundesparteivorstand am Freitag diskutiert. Aus ÖVP-geführten Ministerien war am Donnerstag zu hören, dass man etwaige personelle Entscheidungen jedenfalls bis Montag treffen wolle, da die Bevölkerung zurzeit kein Verständnis für Selbstbeschäftigung der Politik habe. Als Favorit für die Nachfolge als ÖVP-Obmann und Regierungschef gilt STANDARD-Informationen zufolge Innenminister Karl Nehammer.

Er würde damit Alexander Schallenberg als Bundeskanzler ablösen, der in diesem Fall wieder ins Außenministerium zurückwechseln würde. Sollte Nehammer tatsächlich zum Bundeskanzler erkoren werden, zählt Karoline Edtstadler dem Vernehmen nach als logische Nachfolgerin. Die Europa- und Verfassungsministerin kennt das Innenministerium und die dortigen Mitarbeiter gut. Der Richterin, die ihr Jusstudium als Alleinerzieherin bewältigte, nachdem sie schon mit 20 Mutter geworden war, trauen Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter viel zu. Zudem sei sie in der Politik gewachsen. Die "harte Schule" sei für Edtstadler ihre Zeit als Staatssekretärin im Innenministerium unter Herbert Kickl gewesen.

Was gegen eine Innenministerin Edtstadler spricht: Die Juristin, so hört man, ist mit ihren jetzigen Agenden sehr glücklich.

Der gelernte Diplomat Alexander Schallenberg stellte sein Amt als Kanzler am späten Donnerstagnachmittag zur Verfügung. Was der alte und künftige ÖVP-Klubchef Wöginger zwischen den Zeilen im ORF schon zu Mittag ankündigte. Dass Schallenberg die EU- und Verfassungsagenden übernehmen könnte, halten Insider eher für unwahrscheinlich. Sollte er in seine Funktion als Außenminister zurückkehren, muss eine neue Aufgabe für den derzeitigen Außenminister Michael Linhart gefunden werden.

Für die Innenministernachfolge brachte der "Kurier" einen weiteren Namen ins Spiel, der schon mehrmals für einen Topjob in Wien im Gespräch war: Andreas Pilsl, Landespolizeidirektor in Oberösterreich. Pilsl selbst bestritt dies: "Da wissen andere mehr als ich, ich weiß von nichts."

Der "Kurier" berichtete über eine mögliche Ablöse von Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, was ihre Pressesprecherin dementierte. Auch der Posten der Kurz-Getreuen und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger soll wackeln. Zudem standen Gerüchte über einen Abgang von Finanzminister Gernot Blümel im Raum, er trat am Abend tatsächlich zurück. Gegen ihn ermittelt die WKStA ebenfalls. (Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, Markus Rohrhofer, Gabriele Scherndl, Colette M. Schmidt, 3.12.2021)