In türkisen Socken kann man ihn sich nicht vorstellen: Brunner zelebriert alemannische Nüchternheit.
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Vom Nobody zur Schlüsselfigur: Diesen Karrieresprung hat die ÖVP-Krise Magnus Brunner beschert. Als Staatssekretär im grün geführten Klimaschutz- und Verkehrsministerium noch das medial meistignorierte Regierungsmitglied, rückt der 49-jährige Vorarlberger an eine der wichtigsten Positionen vor. Weil Sebastian Kurz’ Abgang aus der Politik auch den mit ihm eng verbandelten Finanzminister Gernot Blümel mitriss, wacht künftig Brunner über das Budget. Mit der relativen Anonymität wird es rasch vorbei sein. Um möglichst viele Medien unterzubringen, packte der neue Finanzminister seine Antrittsinterviews in Sammeltermine. DER STANDARD führte das Gespräch gemeinsam mit dem Kurier und der Wiener Zeitung.

STANDARD: Die Republik steckt in der Pandemie, die Steuerreform wartet auf Umsetzung. Ist es verantwortungsvoll, in so einer Phase wegen innerparteilichen Turbulenzen wichtige Minister auszutauschen?

Brunner: Gerade damit es Kontinuität gibt, hat die Volkspartei das neue Team innerhalb von 24 Stunden aufgestellt. Die Entscheidung für Karl Nehammer war eine für Stabilität. Jetzt erwarten die Leute, dass wir schnell zur Arbeit zurückkehren.

STANDARD: Aber ist Ihr Ministerium überhaupt handlungsfähig? Sie müssen ja erst einmal alles überblicken.

Brunner: Natürlich muss ich mich einarbeiten, dennoch starten wir gleich durch. Die Expertinnen und Experten sind so professionell, dass es keinen Bruch gibt. Nach zwei Jahren in der Bundesregierung nehme ich auch Erfahrung mit.

Eine Bekanntschaft an einer Kaffeebar: Darin sieht Brunner ein Schlüsselerlebnis in seinem Werdegang. Als Volontär in der EU-Kommission lernte er "seinen" damaligen Landeshauptmann Herbert Sausgruber kennen – der Einstieg in die Politik. Der Jurist avancierte zu Sausgrubers Büroleiter und in der Folge zum politischen Direktor des ÖVP-Wirtschaftsbundes, saß elf Jahre als Abgeordneter im Bundesrat, arbeitete für den Vorarlberger Energieversorger Illwerke VKW und als Vorstand der Abwicklungsstelle für Ökostrom (Oemag). Eine klassische schwarze Karriere also, angebahnt lange vor dem türkisen Hype. Wie er es mit all den Affären um Sebastian Kurz und dessen Getreuen hält? Brunner bläst kräftig aus und gönnt sich ein paar Augenblicke zum Gedankenfassen.

STANDARD: Sie haben Sebastian Kurz zum Abschied als fantastischen Kanzler gelobt, der Respekt verdient habe. Liegt aus Ihrer Sicht wirklich keinerlei Schuld bei ihm?

Brunner: Ja, er war ein sehr erfolgreicher Bundeskanzler, hat viele, auch junge Menschen für die Politik begeistert und Wahlen gewonnen.

STANDARD: Die Frage ist, mit welchen Mitteln.

Brunner: Das kann ich nicht beurteilen, das sollen andere bewerten. Ich gehe davon aus, dass es, wie Kurz versichert, keinerlei strafrechtlich relevante Vergehen gibt.

STANDARD: Es geht ja auch um Moral. Als Politiker, der verbinden will: Stört es sie nicht, dass Kurz im Hintergrund etwa einst offenbar die rot-schwarze Koalition sabotiert hat?

Brunner: Womit ich nichts anfangen kann, ist die Art und Weise der diversen Chats, dieser Umgang gefällt mir gar nicht. Aber das war in erster Linie nicht Sebastian Kurz. Die Vorwürfe betreffen nicht zuletzt mein Ressort, die von meinem Vorgänger eingeleitete interne Revision läuft. Ich erwarte bald einen Bericht. Wir werden etwaige Empfehlungen umsetzen.

Vorsichtige Distanzierung vom türkisen Erbe: "Womit ich nichts anfangen kann, ist die Art und Weise der diversen Chats, dieser Umgang gefällt mir gar nicht", sagt Brunner, "aber das war in erster Linie nicht Sebastian Kurz."
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Das türkise Erbe ist damit freilich noch nicht abgearbeitet. Die angebahnte Steuerreform muss erst in allen Details per Gesetz beschlossen werden – in der parlamentarischen Begutachtung hagelte es Kritik. Danach steht eine Weichenstellung an. Setzt sich das Pandemie-Motto "Koste es, was es wolle" in einer entspannten Budgetpolitik fort, oder hält harte Disziplin Einzug? Die Schulden sind in der Corona-Krise massiv angewachsen. Wirtschaftsbündler wie Brunner hatten in der Vergangenheit mitunter andere Antworten parat, als sie Türkis zuletzt gab: etwa den Ruf nach Einsparungen bei den Pensionen.

STANDARD: Was werden Sie anders machen als Ihr Vorgänger?

Brunner: Ich fange lieber damit an, was ich genauso machen werde: Ich will die Unternehmen in der Pandemie so gut wie möglich unterstützen, die ökosoziale Steuerreform umsetzen, die Stabilität der Finanzen im Blick behalten – deshalb halte ich auch nichts davon, die Budgetregeln der EU aufzuweichen. Was mich vielleicht unterscheidet, ist der Stil. Die persönliche Art ist – no na – eine andere. Ich bin kein Showman, sondern Sachpolitiker, der den Ausgleich sucht: mit dem Parlament, der Opposition, den Sozialpartnern. Weniger wichtig ist mir, dass mich bisher nicht ganz so viele Menschen gekannt haben.

STANDARD: Wollen Sie bei der Steuerreform noch nachbessern?

Brunner: Wir werden die eine oder andere Anregung aus dem parlamentarischen Begutachtungsverfahren übernehmen, aber die Grundpfeiler bleiben: auf der einen Seite die Bepreisung des CO2-Ausstoßes, auf der anderen die Entlastung.

STANDARD: Nicht nur Umweltorganisationen, auch der Rechnungshof kann in der ökosozialen Steuerreform keinen Anreiz entdecken, weniger fossile Brennstoffe zu verbrauchen. Gibt Ihnen das nicht zu denken?

Brunner: Jeder Preis, sagen Verhaltensökonomen, hat einen Lenkungseffekt. Natürlich kann man über die Höhe diskutieren, doch man darf die Lebensrealität der Menschen nicht ignorieren. Auf uns kommt nun einmal eine Teuerungswelle zu. Der Einstiegspreis von 30 Euro pro Tonne CO2-Ausstoß ist auch deshalb angemessen, weil die Deutschen beim selben Niveau liegen. Es macht Sinn, sich in der Europäischen Union am großen Nachbarland zu orientieren.

STANDARD: Der ÖVP-Wirtschaftsbund, aus dem Sie stammen, ruft seit langem nach der Abschaffung der kalten Progression. Setzen Sie das um?

Brunner: Das ist und bleibt ein Ziel, aber man muss schon im Auge behalten, was gerade am dringlichsten ist. Die aktuelle Steuerreform übersteigt nicht nur das Ausmaß der kalten Progression, sondern hat auch den Vorteil, dass sich damit Akzente setzen lassen – etwa für die Ökologisierung. Außerdem können wir damit gerade Niedrigverdiener entlasten, während die Abschaffung der kalten Progression eher höheren Einkommen zugutekäme.

STANDARD: Eigentlich klassische linke Argumente.

Brunner: Ob links oder rechts, spielt für mich in dem Fall keine Rolle.

STANDARD: 2025 wird jeder vierte Euro aus dem Budget in die Pensionen fließen. Braucht es Reformen, um Einsparungen zu schaffen?

Brunner: Mehr Nachhaltigkeit im Pensionssystem ist immer ein Thema, etwa bei der Anpassung des faktischen an das gesetzliche Antrittsalter. Aber ich bitte um Verständnis, dass ich am vierten Tag im Amt noch keine Vorschläge vorlege.

Selbstbild Brunners: "Eher Thomas Muster als Boris Becker" – beim Tennis wie in der Politik.
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Seinem Selbstbild macht Brunner im Interview alle Ehre. Dass er einmal wie Blümel in türkisen Socken durch den Sitzungssaal Parlament spaziert, scheint undenkbar. Freundlich spricht der Minister, aber sehr kontrolliert, ohne jede Flapsigkeit – die Vorarlberger Schule. Wer nicht betont nüchtern auftrete, sagen Landesbürger, "wird bei uns nicht gewählt".

Wie viel Zeit künftig noch für das Ländle bleibt, ist offen. Ob die ganze Familie nach Wien zieht, will der Vater von drei Söhnen erst mit seiner Frau bereden. Aus Zeitgründen wackelt auch ein Herzensposten: Noch ist Brunner, selbst ein Könner am Platz, Präsident des Österreichischen Tennisverbandes (ÖTV).

STANDARD: Lässt sich vom Tennis auf Ihren politischen Stil schließen?

Brunner: Ja, durchaus. Ich war immer mehr der Kämpfer, der ausdauernde Grundlinienspieler, und nicht der angriffslustige Serve-Volley-Spezialist. Also eher Thomas Muster als Boris Becker. (Gerald John, 13.12.2021)