Kanzler Nehammer und Vizekanzler Kogler verteidigen den Sideletter zum Regierungsprogramm gemeinsam. Dennoch sät das Papier auch Ärger in den koalitionären Reihen.
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Eigentlich ist es ein Begriff aus der angloamerikanischen Rechtspraxis: Ein "side letter" meint da eine vertragliche "Nebenabrede" oder Nebenvereinbarung zum eigentlichen Hauptvertrag – mit dem Vorteil der Geheimhaltung von Passagen und mehr Freiheiten bei der Gestaltung.

Freitagabend wurde "Sideletter" als zentrales Vokabel in die innenpolitische Debatte in Österreich eingespeist. Denn da kamen bisher geheime Zusatzvereinbarungen zu Koalitionsverträgen, die die ÖVP 2017 mit der FPÖ, aber auch mit dem aktuellen Regierungspartner, den Grünen, fixiert hat, ans Licht der Öffentlichkeit. Unterzeichnet wurden die Hintergrundverträge vom Ursprungskanzler der ÖVP-Grüne-Regierung, dem nunmehrigen Ex-ÖVP-Chef Sebastian Kurz, sowie von Werner Kogler, Vizekanzler und immer noch Grünen-Chef.

Die Debatte darüber sorgt in der Koalition für Ärger. Die Grünen vermuten hinter der Veröffentlichung der Nebenabsprachen eine Intrige aus dem Umfeld von Altkanzler Sebastian Kurz. Das Papier sei mit völlig verdrehtem Spin verbreitet worden, sind sich Kogler und Klubchefin Sigrid Maurer einig. Die Handschrift der Aktion sei eindeutig.

Unmut innerhalb der Grünen

Allerdings stößt das Papier auch bei den Grünen selbst auf Kritik. Denn es geht darin nicht nur um die Aufteilung von Posten, deren Besetzung der Regierung vom Gesetz her zusteht (siehe Faksimile). Was steht drin, was nicht im 232-seitigen türkis-grünen Regierungsprogramm zu lesen ist und die Wogen hochgehen lässt?

In den Sidelettern – die Absprachen bestehen aus mehreren Teilen – finden sich neben den schon am Freitag veröffentlichten Personalbesetzungsplänen auch inhaltliche Vorhaben. Das stößt innerhalb der Grünen auf Unmut, hat in der Partei formell doch der Bundeskongress das letzte Wort über eine Regierungsvereinbarung. Das Verschweigen derartiger Vereinbarungen wiege insofern schwer, twittert der Ex-Abgeordnete Albert Steinhauser, "als dem Bundeskongress (...) nicht alle relevanten Informationen offengelegt wurden".

Kopftuchverbot: "Im Wirkungsbereich des Bildungsministeriums wird im Wege des Erlasses ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen im Laufe der Legislaturperiode eingeführt", steht im Sideletter. Für die grüne Basis ist dieses Vorhaben starker Tobak. Wollte die Parteispitze das Kopftuchverbot deshalb am Bundeskongress vorbeischmuggeln? Nachdem die Grünen vor der Regierungsbildung ein entsprechendes Gesetz "wegverhandelt" hätten, argumentieren Kogler und Klubchefin Maurer, habe die ÖVP auf dem Vermerk im Sideletter bestanden – wohl auch deshalb, damit die Grünen nicht nachträglich sagen könnten, sie hätten von nichts gewusst.

Es sei aber klar, dass ein solcher Erlass nie vor dem Verfassungsgerichtshof standhalten würde, so Kogler und Maurer. Deshalb habe man diesem "Nullum" zugestimmt. Dass dahinter ein Abtausch für Zugeständnisse im ORF gestanden sei, dementieren beide.

Es sei "das Gegenteil von dem übrig geblieben, das die ÖVP wollte", sagte der grüne Parteichef Werner Kogler in der ORF-Sendung "Im Zentrum" am Sonntagabend. Es sei klar gewesen, dass ein derartiges Gesetz "nie vor dem Verfassungsgerichtshof gehalten hätte", sagte Kogler.

Werner Kogler verteidigt den "Sideletter" in der ORF-Sendung "Im Zentrum".
ORF

Pensionen: Auch die Abschaffung der umstrittenen Hackler-Frühpension ist im Sideletter festgeschrieben, auch dieser Plan wäre an der Basis wohl auf Kritik gestoßen. Sie war gegen ein Aus, twittert die Ex-Grünen-Politikerin Birgit Hebein, damals die führende Koalitionsverhandlerin auf grüner Seite zum Thema Soziales. Es sei ihr auch gelungen, sich gegen die ÖVP durchzusetzen und die Pensionsregelung am Verhandlungstisch zu retten. Dass in einem Sideletter anderes fixiert wurde, habe sie nicht gewusst.

Wieder verweisen Kogler und Maurer auf den Wunsch von Verhandlungspartner Kurz: Dieser habe der oppositionellen SPÖ keine Angriffsfläche bieten wollen. Ungelegen kam der grünen Spitze der Sideletter in dem Fall aber auch nicht. Schließlich sei noch nicht ausverhandelt gewesen, dass das eingesparte Geld zum Teil im Pensionssystem bleibt und – wie im November 2020 letztlich beschlossen – für einen Frühstarterbonus verwendet wird, gibt Kogler zu bedenken: Da wäre eine unangenehme Debatte hochgekocht.

ORF: Der Sideletter legt fest, dass die Grünen zwei Mitglieder des ORF-Direktoriums aussuchen dürfen, auf die ÖVP entfallen drei plus Generaldirektor – genauso ist es letztlich gekommen. Dafür erhalten die Grünen das Vorschlagsrecht für den Stiftungsratsvorsitzenden, "wenn dieser neu zur Wahl steht". Laut mit der Materie Vertrauten soll der Grüne Medienfachmann Lothar Lockl heuer als Nachfolger von Norbert Steger (FPÖ) inauguriert werden.

Die Grünen verteidigen die Absprachen nicht erst seit heute. Es gehe darum, die völlige ÖVP-Dominanz im ORF – quasi eine Orbánisierung – zu verhindern, sagt Kogler: "Wir waren zwar neu in der Regierung, aber nicht naiv." Ob eine Personalauswahl nach politischen Farben im Rundfunk nicht per se zur Orbánisierung passe? Die Grünen hätten ja keine Parteisoldaten genommen, sondern auf die Kompetenz der Kandidaten geachtet, so der Vizekanzler.

Höchstgerichte, EU, Unternehmen: Andere Personalfrage, die vorab außer Streit gestellt wurde: Die im Sideletter beschriebene Aufteilung am Verfassungsgerichtshof sah auf der ÖVP-Habenseite Christoph Grabenwarter als Präsident vor, das Nominierungsrecht für den Vize für die Grünen. Sie wollten Verena Madner, sie wurde es. Sideletter-konform erledigt.

Festgelegt haben Türkis und Grün auch bereits, dass die ÖVP 2024 den EU-Kommissar auswählen darf, die Grünen dafür bei Rochaden am Europäischen Gerichtshof und am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2023 den Vorzug erhalten. Die Volkspartei stellt im Generalrat der Österreichischen Nationalbank den Präsidenten, die Grünen den Vizepräsidenten. Die zwei Vorstände der Finanzmarktaufsicht werden geteilt.

Weiters dürfen die Grünen in Unternehmen mit Staatsbeteiligung, für die der ÖVP-Finanzminister zuständig ist, ein Drittel der Aufsichtsräte vorschlagen. Umgekehrt gilt für die Beteiligungen in der Zuständigkeit der grünen Klimaministerin, dass ein Drittel der Aufsichtsräte von der ÖVP nominiert wird.

SPÖ und Neos empört

Die Opposition reagierte empört: Einmal mehr zeige sich das Selbstverständnis des türkisen Systems, geliehene Macht ausschließlich für parteipolitische Zwecke zu missbrauchen, urteilt die SPÖ. Die Neos sehen "zutiefst ungustiöses Machtdenken" und "das genaue Gegenteil von sauberer und anständiger Politik" sowie "Postenschacher in Reinkultur".

Erwartungsgemäß diametral anders gelagert ist die Position von Kanzler Karl Nehammer. Wie Kogler verteidigt der ÖVP-Chef den Sideletter als Selbstverständlichkeit, derartige Festlegungen habe es noch in jeder Regierung der Zweiten Republik gegeben . Das sei "völlig normal" und auch notwendig, um effizient arbeiten zu können. Dementsprechend kritisierte er eine "Kultur der Aufgeregtheit".

Doch werden die Koalitionäre ruhig Blut behalten? In den grünen Reihen kursieren Vermutungen, wonach die "Intrige" nicht allein auf die Kreise um Kurz zurückzuführen sei. Kogler und Maurer nehmen Nachfolger Karl Nehammer hingegen in Schutz – zumindest zum Teil: Sie glaubten nicht, dass der amtierende Kanzler und ÖVP-Chef die Veröffentlichung des Sideletters goutiere. Allerdings, so der Nachsatz, müsse Nehammer seine Partei in den Griff bekommen. (Gerald John, Lisa Nimmervoll, 30.1.2022)