"Agnotologie" nennt der Philosoph Robert Proctor die Lehre von der Erzeugung von Zweifeln und Ignoranz.

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Als in den 1950ern klar wurde, dass Rauchen Lungenkrebs verursacht, begannen Tabakkonzerne, Forschung zu finanzieren, die diese Tatsache in Zweifel ziehen sollte. Unter dem Motto "Doubt is our product" wurden Wissenschafter angestellt, um Ergebnisse seriöser Studien zu diskreditieren. In der Öffentlichkeit sollte der Eindruck entstehen, die Sache sei noch nicht geklärt.

Die Strategie ist seither vielfach nachgeahmt worden. So finanzieren heute Industrieorganisationen auch beim Thema Klimawandel Studien streitbarer Experten und zweifelhafter Thinktanks. Doch wie kann man Scheinforschung von echter Wissenschaft unterscheiden? Was kann die Gesellschaft gegen die unbegründeten Zweifel an gut begründeten Theorien tun, die mit ihr gesät werden? Diesen Fragen widmete sich der Bielefelder Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier jüngst in einer von der Central European University und der Universität Wien organisierten Vortragsreihe.

Carrier sieht in der Scheinforschung kein schwerwiegendes philosophisches Problem. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive lasse sich klar benennen, was sie von echter Wissenschaft unterscheidet. Stets würden ihre Studien methodische Standards verletzen, etwa durch zu kleine Stichproben oder mangelhafte statistische Analysen. Scheinforschung kennzeichne zudem, dass sie keine neuen Erkenntnisse in die Welt bringt. Sie diene allein außerwissenschaftlichen Zwecken, etwa Profitinteressen.

Gesellschaftliche Folgen

Auch aus einer wissenschaftsinternen Perspektive stellt Scheinforschung in Carriers Augen keine gewichtige Herausforderung dar. Selbst unbegründete Zweifel würden dazu beitragen, dass Forschende ihre Theorien präzisieren und besser belegen. Kontroversen stimulierten wissenschaftlichen Fortschritt auch dann, wenn die fraglichen Einwände haltlos seien. Durch eine Kultur der Gewissenhaftigkeit und eine harte Auslese durch wechselseitige Kritik sei Scheinforschung in der Wissenschaft ein Riegel vorgeschoben. Was die Scheinforschung zum Problem macht, seien ihre gesellschaftlichen Folgen. Immer wieder ist es ihr gelungen, in der Öffentlichkeit unbegründete Zweifel an wohletablierten Erkenntnissen zu verbreiten und damit erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Mit ihren vermeintlichen Forschungsergebnissen gelang es der Tabaklobby, Regulierungen um Jahrzehnte zu verzögern. Beim Thema Klimawandel sieht es gegenwärtig kaum besser aus.

Wissenschaft als Feindbild

Die Situation wird noch durch wissenschaftsfeindliche Protestbewegungen verschärft. Zwar veröffentlichen sie im Gegensatz zur Scheinforschung keine Studien. Doch beteiligen sich die populistischen Mobilisierungen an der Erzeugung von Ignoranz, indem sie den wissenschaftlichen Konsens als Fake darstellen und durch unbegründete Theorien zu ersetzen versuchen. Zudem fallen die Ergebnisse der tatsächlichen Fake-Forschung bei ihnen auf einen fruchtbaren Boden, deren Behauptungen sie in der Öffentlichkeit verstärken – eine Dynamik, die sich mit den sozialen Medien stark beschleunigt hat.

Carrier sieht es als eine wichtige Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, Strategien zu entwickeln, wie man Scheinforschung und populistische Wissenschaftsfeindschaft entgegentreten kann. Als ersten Weg hielt er dabei den zwanglosen Zwang des besseren Arguments hoch. Zwar würden sich Leugner und Ignoranten durch eine Konfrontation mit Fakten kaum beeindrucken lassen. Eine effektive Strategie bestehe aber in "interner Kritik", also darin, sich auf ihre Behauptungen einzulassen, um in ihnen Widersprüche und Fehlschlüsse nachzuweisen.

Der deutsche Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier.
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Um wissenschaftsfeindlichen Mobilisierungen keinen Vorschub zu leisten, sei es zudem wichtig, wissenschaftliche Expertise und Werturteile klar auseinanderzuhalten. Weil Forschende diese Grenze nicht immer respektiert hätten und den Anschein erweckten, aus ihren Erkenntnissen folgten unmittelbar bestimmte politische Maßnahmen, hätten sie sich auch selbst zum Objekt von Protest gemacht. Eigentlich politische Konflikte würden so in Konflikte um wissenschaftliche Erkenntnisse umgewandelt.

Um das Vertrauen in die Wissenschaft zu erhöhen, sei es nicht zuletzt wichtig, das Verständnis für sie in der Öffentlichkeit zu verbessern. Carrier scheint dabei nicht so sehr daran zu denken, dass die Bürger mehr wissenschaftliches Wissen haben sollten. Eher geht es ihm darum, dass sie klarer die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft sehen – mit Blick darauf etwa, dass ihre Erkenntnisse revidierbar bleiben und es erkenntnistheoretisch wertvoll ist, dass es unterschiedliche Perspektiven auf noch offene wissenschaftliche Streitfragen gibt.

Dabei komme dem Wissenschaftsjournalismus eine zentrale Rolle zu. Er solle sich nicht darauf beschränken, nur die Ergebnisse bestimmter Studien mitzuteilen. Stattdessen solle er auch reflektieren, wie die Forschenden zu ihren Schlüssen gelangen und wie gut oder schlecht diese bestätigt sind. So könne er dafür sensibilisieren, dass auch in der Wissenschaft nichts absolut endgültig bewiesen ist – verlangten Leugner wissenschaftlicher Erkenntnisse und anerkannter Theorien doch gerne einen kaum je erreichbaren Grad von Sicherheit.

Keineswegs unfehlbar

Gerade indem man aufhört, Wissenschaft als Quell unfehlbarer Wahrheiten zu idealisieren, so wäre Carrier hier wohl fortzudenken, kann man also unbegründeten Zweifeln den Boden entziehen und Ignoranz bekämpfen. Wenn klar ist, dass auch wissenschaftliche Erkenntnisse Wandel unterliegen und revidierbar bleiben, würden noch nicht geschlossene Kontroversen und anhaltende Lernprozesse, wie sie etwa während der Pandemie im Licht der Öffentlichkeit ausgetragen wurden, keinen Anlass mehr zu Misstrauen oder zur Schlussfolgerung "Jeder sagt was anderes" bieten. (Miguel de la Riva, 17.2.2022)