Beim Seepferdchensex ergreift das Weibchen die Initiative: Es deutet mit dem Greifschwanz zum Himmel und streckt seinen Körper schnurgerade aus – eine Pose, die auf das Männchen offenbar unwiderstehlich wirkt. Kraftvoll drückt der Hengst der Meere daraufhin sein Kinn gegen die Brust und lässt den Hinterleib vor- und zurückschnellen. So pumpt er Wasser in seine Bauchtasche und präsentiert, wie groß diese ist.

Seepferdchen beim Liebesspiel: Ein Männchen präsentiert seiner Auserwählten den Brutbeutel zur Eiablage, aufgenommen im Wiener Haus des Meeres.
Foto: Georg Glaeser

Dann kuscheln sich Stute und Hengst aneinander. Aus der Körpermitte des Weibchens stülpt sich ein röhrenförmiges Organ, das an einen Penis erinnert: der Ovipositor. Auf dem Höhepunkt des Liebesspiels spritzt das Weibchen seine Eier in die Bauchtasche des Männchens, wo sie befruchtet werden.

Bald darauf lösen sich die Liebespartner voneinander. Das Weibchen schwimmt davon, um sich neue Kalorien anzufuttern – und für den werdenden Vater beginnt die Schwangerschaft. "Bis zu vier Wochen dauert diese strapaziöse Phase, und die Männchen nehmen oft ab, während der Brutbeutel wächst", erzählt Daniel Abed-Navandi, stellvertretender Direktor am Haus des Meeres in Wien.

Die befruchteten Eizellen haben einen Dottersack. "Aber der Vater versorgt sie zusätzlich mit essenziellen Nährstoffen und Salzen", so Abed-Navandi. Vermutlich werden diese Nährstoffe über Drüsen in die Bauchtasche abgegeben: als eine Art Energiecocktail.

Väterliche Brutpflege

Bis zu tausend Seefohlen wachsen bei manchen Arten pro Wurf heran. "Und die Wehen werden, wie beim Menschen, durch das Hormon Oxytocin ausgelöst", sagt der Wiener Meeresbiologe. Der Bauch des Vaters krampft sich dann konvulsiv zusammen, um die Babys herauszupressen. Die Geburt kann Stunden dauern.

Warum aber werden die Hengste schwanger? Meist machen sich im Tierreich die Männchen nach der Paarung rasch davon. Bei Fischen aber kümmern sich vor allem die Väter um die Brutpflege. Fachleute vermuten, dass die Urahnen der Seepferdchen den heutigen Stichlingen ähnlich waren: Schwarmfischen, die in Europa und den USA verbreitet sind.

Stress für die Fischmännchen

Im Sommer buddelt das Stichlingsmännchen in Ufernähe im Sand eine Mulde aus und hält nach laichreifen Weibchen Ausschau. Mit einem Zickzacktanz bezirzt es die Auserwählte und dirigiert sie zum Eingang des Nests. Kaum ist abgelaicht und besamt, zieht das Weibchen weiter – und für das Männchen beginnt der Stress: Raubfische verjagen, frisches Wasser herbeifächeln, faule Eier aussortieren.

Über die Jahrmillionen begannen einige männliche Stichlinge dann wohl, die befruchteten Eier am Körper mit sich zu tragen – und wurden immer seepferdchenartiger. Die Evolutionsökologin Olivia Roth vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel vermutet, dass Heißhunger dabei eine zentrale Rolle spielte. "Seepferdchen müssen regelmäßig Lebendfutter zu sich nehmen", sagt Roth. "Ich denke daher, dass der Schritt, die Eier mit sich herumzutragen, in erster Linie eine evolutionäre Anpassung war, die häufigeres Fressen ermöglichte."

Schlüssel im Immunsystem

Nach und nach habe sich, als zusätzlicher Schutz für die Keimlinge, dann die Bruttasche herausgebildet. Und einen Vorteil hat die Männerschwangerschaft: Sie ermöglicht kürzere Geburtsintervalle – und daher mehr Nachkommen. Denn die Produktion der Eier erfordert bei Seepferdchen besonders viel Energie. Da die Männchen die Babys austragen, können die Weibchen sich ganz auf diese Aufgabe konzentrieren.

Olivia Roth untersucht nun, welche genetischen Voraussetzungen die Männerschwangerschaft ermöglicht haben. "Wir vermuten, dass der Verlust bestimmter für das Immunsystem wichtiger Gene dazu beigetragen hat", sagt sie. Denn weshalb attackiert das körpereigene Abwehrsystem männlicher Seepferdchen die Embryonen während der Schwangerschaft nicht, obwohl deren DNA neben der Erbinformation des Vaters ja auch diejenige der Mutter enthält? Der Organismus des Männchens müsste das heranwachsende Leben also als fremd erkennen und mit Antikörpern bekämpfen, wie Keime, die Krankheiten auslösen.

"Wir haben herausgefunden, dass sich im Lauf der Evolution der männlichen Schwangerschaft diejenigen Teile des Immunsystems stark verändert haben, die für die Unterscheidung von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ entscheidend sind", sagt Roth. Bei Säugetieren wird die Aktivität im entsprechenden Bereich vorübergehend heruntergefahren. Die Seepferdchen haben einen radikaleren Weg gewählt: Ein Teil ihres Immunsystems wurde ausgeschaltet.

HIV-Therapie

Gene, die für die Produktion des sogenannten Haupthistokompatibilitätskomplexes II (MHC II) verantwortlich sind, haben sich so weit verändert, dass sie nicht mehr funktionsfähig sind. Und genau mithilfe dieser Proteine unterscheidet der Körper für gewöhnlich zwischen "eigen" und "fremd", um Gewebe letzterer Art zu bekämpfen.

Beim Menschen sind MHC-II-Proteine auch bei Abstoßungsreaktionen nach Organtransplantationen aktiv. "Ohne die entsprechenden Gene und ihre Funktion galt höher entwickeltes Leben als unmöglich", sagt Roth. Fehle dieser Schutz, glaubte man, würden komplexe Organismen schnell durch Infektionen dahingerafft.

Noch spannender: Genau diese im Abwehrsystem der Seepferdchen nicht mehr funktionsfähigen Gene werden bei Menschen, die an Aids erkranken, durch das HI-Virus attackiert. Seepferdchen, die offensichtlich auch ohne diesen Schutzschild überlebensfähig sind, könnten daher ein wichtiges Modell für die Erforschung menschlicher Immunsystemdefizite werden – und vielleicht auch zur Entwicklung neuer Therapien gegen Aids. (Till Hein, 6.3.2022)