Spätestens nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 ging vielen auf, dass die Kernspaltung für die Zukunft unserer Energieversorgung vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Im Jahr davor hatten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Genf auf die Entwicklung eines gemeinsamen Fusionsenergieprojekts angestoßen – wäre das eine Energiealternative, mit der man rechnen kann?

Die Vertragsunterzeichnung, zugleich der Grundstein für den späteren Versuchsfusionsreaktor Iter, ist nun über 35 Jahre her. Man bekommt den Eindruck, bei der "Wundertechnologie" gegen künftige Energiekrisen und ungewollte Abhängigkeiten hätte sich wenig Greifbares getan. Das Gefühl täuscht freilich, denn auf dem Weg zur Realisierung dieser Technologie sind in Wahrheit substanzielle Fortschritte gelungen.

Der Experimentalreaktor Iter (Mitte) in seinem Kraftwerksgebäude. Zum Größenvergleich: Unterhalb des zentralen 17 Meter hohen Torus ist eine menschliche Figur dargestellt.
Illustr.: ITER Organization

Energieengpässe

Nachhaltige klimaneutrale Energieerzeugung ist ein wachsender Sektor, aber ob er mit dem eskalierenden Stromhunger der Menschheit mithalten kann, ist zweifelhaft. Eine Lösung für die Energieengpässe der Zukunft (ohne die neuerdings wieder salonfähige Kernkraft) wäre also nicht verkehrt. Und das wird die Fusionsenergie zumindest anteilmäßig auch tatsächlich leisten – davon ist Friedrich Aumayr, Vorstand des Instituts für Angewandte Physik der TU Wien, überzeugt. Aumayr ist wissenschaftlicher Direktor des österreichischen Fusionsforschungsprogramms, das von der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) koordiniert wird.

Er sieht insbesondere durch jüngste erfolgreiche Experimente mit dem Reaktor JET bestätigt, dass Fusionskraftwerke grundsätzlich funktionieren und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch ihren Platz im Strommix haben werden. "Die Physik hinter Iter ist mittlerweile in trockenen Tüchern. Der Betrieb von Iter wird zeigen, dass bei der Fusion auch mehr Energie frei wird, als man für das Heizen des Plasmas aufbringen muss", sagt Aumayr.

Die Iter-Baustelle beim südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache.
Foto: Les Nouveaux Médias/SNC ENGAGE

Schwer zu bändigen

Dass man nicht schon längst so weit ist, liegt an den organisatorischen Hürden für solche internationalen Großprojekte, vor allem aber an den vielen schweren Brocken, die einem die Physik bei der Bändigung der Fusionsenergie in den Weg legt. Um unter dem Strich mehr Energie aus der Fusion von Kernteilchen zu beziehen, als man für die komplexe technische Apparatur aufwenden muss, bedarf es Lösungen, die zum Teil erst erfunden werden mussten. Einige davon gibt es mittlerweile.

Vereinfacht gesagt zapft man bei der Kernfusion jene Energie an, die frei wird, wenn Atome zu neuen Elementen verschmelzen. Nicht bei allen Kernfusionen ist diese Bilanz positiv. Damit die Rechnung aufgeht, muss die Masse der beiden Kerne zusammen größer sein als die gemeinsame Masse der entstehenden Kerne und Teilchen.

Video: Wie funktioniert ein Fusionskraftwerk?
MaxPlanckSociety

Gegen den Widerstand

Wenn die Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu Helium-4 fusionieren, ist das der Fall. Das größte Hindernis bei der Verschmelzung solcher Kerne ist ihre elektrische Abstoßung. Eigentlich steht selbst den heißen Wasserstoffisotopen im Fusionsplasma nach der klassischen Mechanik nicht genug Energie zur Verfügung, um den Abstoßungswiderstand zu überwinden. Dass das trotzdem klappt, ist dem quantenmechanischen Tunneleffekt zu verdanken.

Dazu benötigt man extrem hohe Temperaturen und Drücke sowie starke, steuerbare Magnetfelder. Diese sollen unter anderem verhindern, dass das heiße Deuterium- und Tritium-Plasma mit seiner Umgebung in Berührung kommt. Die Umsetzung dieser hochkomplexen Anforderung mündete in unterschiedliche Konstruktionsprinzipien von Fusionsreaktoren mit magnetischem Einschluss des Plasmas.

Video: Kernfusion: Klimaretter oder Milliardengrab (Harald Lesch).
Terra X Lesch & Co

Zwei bekannte Typen

Am bekanntesten sind die Typen Stellarator und Tokamak, die sich vor allem durch die Formen und Quellen der erzeugten Magnetfelder unterscheiden. Beim Stellarator lassen sich Stabilitätsprobleme im Plasmastrom, wie sie beim Tokamak-Konzept für Kopfzerbrechen sorgen, leichter vermeiden. Allerdings macht die komplexe Anlagengeometrie die Konstruktion und Wartung von Stellaratoren äußerst aufwendig. Der weltweit größte Versuchsreaktor dieses Typs ist die Anlage Wendelstein 7-X, die in Greifswald in Norddeutschland vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) betrieben wird.

Beim seit 2007 in Bau befindlichen internationalen Projekt Iter setzt man daher auf einen Tokamak-Reaktor. Das Konzept zeichnet sich dadurch aus, dass der magnetische Plasmaeinschluss zum Teil von im Plasma fließendem Strom hervorgerufen wird. Das Ziel ist da wie dort eine selbsterhaltende Fusionsreaktion, der Weg dorthin wird davon bestimmt, wie gut man es schafft, das Hunderte von Millionen Grad Celsius heiße Plasma zu kontrollieren.

Der Blick in den Tokamak-Reaktor am Swiss Plasma Center (SPC) zeigt das von einer KI kontrollierte Plasma.
Foto: Curdin Wüthrich /SPC/EPFL

Fusion mit KI-Hilfe

Dieses permanente Finetuning ist eine Aufgabe mit zahllosen Variablen, weshalb sich die Hilfe durch künstliche Intelligenz geradezu aufdrängt. Tatsächlich könnten entsprechende Algorithmen Fusionsenergie der wirtschaftlichen Nutzbarkeit einen bedeutenden Schritt näherbringen, wie Versuche eines internationalen Teams am Swiss Plasma Center (SPC) der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) zuletzt zeigten.

Das Besondere am Tokamak-Reaktor des SPC ist seine umfassende Konfigurierbarkeit. Diese wurde mit den Deep-Learning-Fähigkeiten von Software aus dem Haus Deepmind kombiniert, einer 2014 von Google übernommenen Firma. Auch Forschende der Universität Linz lieferten wichtige Beiträge.

Die Experten entwickelten und trainierten eine KI, die – anfangs in Simulationen – spezifische Plasmakonfigurationen formen und aufrechterhalten kann. Dann testete das Forschungsteam um Federico Felici vom SPC das neue System im Tokamak, um zu sehen, wie es sich unter realen Bedingungen verhält. Das im Fachjournal "Nature" präsentierte Ergebnis zeigt, dass man offenbar auf dem richtigen Weg ist.

Mit der Unterstützung der KI konnten die Forschenden das Plasma gleichsam modellieren und in unterschiedliche Formen zwingen.
Grafik: DeepMind & SPC/EPFL

Alle möglichen Plasmaformen

Der Algorithmus schaffte es, die Magnetfelder so zu steuern, dass nicht nur herkömmliche Plasmaformen entstehen konnten, sondern auch reichlich unkonventionelle. Es gelang sogar, zwei Plasmen getrennt und zur gleichen Zeit im Torus des Reaktors aufrechtzuerhalten – etwas Vergleichbares war bisher noch nie gelungen.

Dass die Kernfusion trotz dieser Fortschritte bei der akuten Verringerung der CO2-Emissionen noch eine Rolle spielen wird, bezweifeln Felici und sein Team. Aumayr bestätigt diese Einschätzung: Die Fusions-Roadmap sieht vor, dass der Iter-Nachfolger Demo etwa um 2050 erstmals Fusionsstrom ins Stromnetz einspeisen wird. (Thomas Bergmayr, 13.3.2022)