Nachts hallen lediglich die dumpfen Tritte meines Reittiers durch den Wald. Den Händler, der um das prasselnde Feuer sitzt, habe ich hinter mir gelassen. Er hatte nichts von Wert für mich. Auf der linken Seite entdecke ich eine Ruine. Und in Ruinen, das wissen Videospielerinnen und Videospieler, gibt es immer etwas zu holen. Ich springe ab und schleiche mich durch den zerstörten Torbogen. Keine Gegner weit und breit. Wobei, so sicher kann ich mir nicht sein, es ist stockfinster. In einem Turm, der kein Dach mehr besitzt, finde ich eine Truhe. War es das schon? Ich suche noch einmal leise jede Ecke ab. Was ist das? Ist das ... Fell?

Screenshot: Pollerhof

Kaum habe ich den Gedanken gefasst, erhebt sich ein haushoher Grizzlybär, schüttelt sich kurz den Schlaf aus dem Kopf und fängt an, mich mit seiner Pranke, die so groß ist wie der Schild, den ich in der linken Hand trage, zu jagen. Mein erster Instinkt ist es, aus der Ruine zu verschwinden, um mehr Platz und Übersicht zu haben. Der Bär hilft mir, indem er mich mit seiner Tatze erwischt und gut drei Meter vor den Torbogen schleudert. Erst jetzt erkenne ich, wie groß mein Gegner wirklich ist. Todesmutig werfe ich mich ihm entgegen – und muss wenige Sekunden später das Zeitliche segnen.

Bücher über Ritter und ihre Abenteuer

So oder so ähnlich laufen viele meiner Wege im neuen Titel von From Software, Elden Ring, ab. Eine Mischung aus Entdeckerdrang, der Suche nach wertvollen Gegenständen, Panik und virtuellem Ableben. Was nach Stunden voller Qual klingt, ist genau das Gegenteil – nämlich vielleicht der größte Spaß, den ich seit Jahren in einem Videospiel hatte.

Es ist auch ganz leicht zu erklären, warum das so ist. Denn Elden Ring lässt mich wieder glauben, ich sei ein kleiner Bub. Der abends in seinem Bett liegt und Bücher über Ritter und ihre Abenteuer liest. In Welten, in denen an jeder Ecke Gefahren, Schätze und unwirkliche Wesen lauern. Wo eine universelle Bedrohung über dem Land lauert, keiner weiß so wirklich, was kommt, noch weiß irgendwer, was war.

Screenshot: Pollerhof

Nur ist es eben keine generische Fantasy-Welt. Ich bin kein Ritter, sondern eine Kriegerin, mich begleitet kein Wolf oder Hund, sondern eine magische Qualle, mich greifen nicht Skelettkrieger an (okay, manchmal doch), sondern wie Spinnen laufende Hände, lebendige Tentakelbälle und Riesen, die aussehen, als seien sie dreimal gestorben und wiederbelebt worden.

Kleine goldene Funken

Die größte Faszination an Elden Ring ist für mich das, was es auch von vielen Triple-A-Titeln unterscheidet. Es lässt mich machen, es lässt mich sein. Während ich in anderen Spielen (ja, ich schaue dich an, Horizon) schon durch diverse Pop-ups, NPCs und sonst was dazu genötigt worden wäre, ein ellenlanges Tutorial zu durchlaufen oder gar die erste Kette an Missionen zu absolvieren, kann ich in Elden Ring spazieren, flanieren, entdecken, kämpfen, sterben und sammeln, wie es mir beliebt und zusteht. Lediglich kleine goldene Funken weisen mir den Weg, sollte ich denn noch mal etwas Progress machen wollen.

All das wurde bei Zelda: Breath of the Wild schon hochgelobt, aber, Asche auf mein Haupt, das habe ich in Ermangelung einer Nintendo Switch nie gespielt. Jetzt kann ich dieses Freiheitsgefühl also endlich nachholen. Und wie.

Screenshot: Pollerhof

Um das genauer zu erklären hier ein Dialog zwischen mir und meinem Bruder, beide rund zwei Stunden Spielzeit intus:

Vorhang auf

Thorben: "Ich hab' erst mal noch zwei andere Bosse gemacht, bevor ich das Reittier bekommen habe."

Bruder: "Welche zwei Bosse?"

Thorben: "Na, die in den Höhlen."

Bruder: "In welchen Höhlen?"

Thorben: "Na, da nördlich vom Weg, den man gehen muss."

Bruder: "Welchen Weg muss man gehen?"

Vorhang zu

Elden Ring bietet jedem ein ganz eigenes Spiel, weil es eben nicht vorschreibt, wie man es zu spielen hat. Ich bin mir sicher, dass kein Stream da draußen dem anderen gleicht, auch wenn ich aus Angst vor Spoilern in keinen einzigen reingeschaut habe.

Fairerweise muss man sagen, dass nicht alles perfekt ist. Was schon dreitausendmal geschrieben wurde, weil es nun mal stimmt, sei auch hier notiert: Elden Ring ist nicht für jede und jeden. Wer noch nie einen Titel von From Software gespielt hat, der wird sich schwertun, die Mechaniken, das Kampfsystem und das teils zum Haareraufen unübersichtliche Interface und die Menüführung zu durchschauen. Wer aber seine Erfahrungen und Schläge mit und von diversen Soulsborne-Titeln gemacht und bekommen hat, der findet in Elden Ring vielleicht das Beste aus allen Welten.

Keine Lust auf Frust

Und auch das muss dabei gesagt werden: Es ist bockschwer. Wer sich alleine durch die Welt schlagen will, wird fluchen, Schmerzen ertragen und Controller fachgerecht in den Polster werfen müssen. Ich bin versucht zu schreiben, dass es dabei nie unfair wird, was eine kleine Lüge wäre. Es gibt Stellen, an denen so viele Gegner auf einen eindreschen, dass ich es hie und da als unfair empfand. Jetzt dürfte der Hate der Jünger auf mich einprasseln, aber das ist meine Wahrnehmung. Viele Gegner auf einen Ort packen, um das Spiel schwer zu machen, ist keine Kunst. Genauso wenig, wie es eine Kunst ist, einem Boss unendlich Lebenspunkte zu geben. Das kann Elden Ring an vielen, vielen Stellen des Spiels besser. Indem es Gegner ausspuckt, die mit unglaublich variablen Move-Sets daherkommen oder die in kleineren Gruppen mit ausgeklügelten Taktiken angreifen. Es greift aber eben manchmal auf dieses alte und billige Stilmittel zurück.

Screenshot: Pollerhof

Wer keine Lust auf Frust hat, dem sei natürlich der Multiplayer ans Herz gelegt. Und jetzt dürften auch die Rufe wieder laut werden: Wer in einem Soulsborne-Spiel Hilfe holt, der kann nix, "Git gud, ahahaha", ja ja, ist gut jetzt. Elden Ring ist nicht einsteigerfreundlich, aber die Funktion, mit anderen zusammenzuspielen, ist immerhin ein Lichtblick. Wie viele Stunden habe ich damit verbracht, anderen in Stormveile Castle zu helfen! Und damit nicht nur verzweifelten Gamerinnen und Gamern eine Freude bereitet, indem ich ihnen nützliche Abkürzungen gezeigt habe, sondern auch meinen Charakter verbessert. Dazu zeigt Elden Ring, wie gut eigentlich nonverbale Kommunikation in einem Videospiel funktionieren kann. Jubelposen, ein Fingerzeig nach vorne, ein Fingerzeig nach unten, mehr braucht es nicht, um sich zu verständigen. Die Erleichterung, die Glücksgefühle oder die Trauer, die fühlt man auch, ohne es zu hören.

"Wie cool war das bitte?!"

Und ja, der Multiplayer ist im Grunde der Easy Mode von Elden Ring. Und das empfinde ich als sehr angenehm. Diese Welt steckt so voller Ideen, Geheimnisse und Wow-Momente, dass es um alle die Spielerinnen und Spieler schade ist, die aufhören, weil es ihnen zu schwer ist. Wer das ganze Spiel im Koop durchspielen will: Go for it. Deswegen gibt es die Funktion. Hauptsache, so viele Menschen wie möglich erfahren, wie Videospiele aussehen, was sie bewirken, wie sehr sie einen in ihre Welt ziehen können.

Am liebsten würde ich einen Text nur mit meinen Lieblingsmomenten vollschreiben, aber ich möchte auch niemandem die Chance nehmen, es selbst zu erleben. Elden Ring ist erstmals seit langer Zeit, für mich quasi seit Dark Souls I, ein Erlebnis, über das ich gerne mit Freundinnen und Freunden auf dem Schulhof reden würde: "Ey, wie cool war bitte der Moment, als der Drache auf einmal reingeflogen ist und den Altar zerstört hat?!" Die Zeit ist leider vorbei, trotzdem löst Elden Ring das in mir aus. Wann habe ich zuletzt die Marker-Funktion auf einer Videospiel-Karte benutzt, weil es so viele Orte, Charaktere und Fundstücke gibt, die ich mir merken möchte? Mir fällt gerade ein, dass ich ein riesiges Gebiet nach anfänglichen Erkundungen erst einmal wieder zurückgelassen habe. Da komme ich dann eventuell in zwei Wochen wieder hin. Wenn ich es bis dahin nicht wieder vergessen habe.

Wer Elden Ring in seiner ganzen Breite erfahren und genießen will, der muss seinen Job kündigen, seine Familie zurücklassen und auf eine einsame Insel mit Internetanschluss ziehen. Aber seien Sie unbesorgt, es geht auch mit weniger Zeit. Und dann, das verspreche ich Ihnen, zeigt es auch nach drei Wochen keinerlei Abnutzungen, sondern wird im Gegenteil immer besser. Denn wenn man in der aktuellen Zeit nach Ablenkung sucht, gibt es wohl nichts Schöneres, als sich für ein paar Stunden nochmals wie ein Kind zu fühlen. (Thorben Pollerhof, 19.3.2022)