Im Gastkommentar schlägt Bildungswissenschafterin Nadja Thoma vor, die Finanzierung von Forschungsprojekten nicht von ihrem Forschungsstandort abhängig zu machen.

Wissenschaftliche Zusammenarbeit, etwa in der Polarfoschung, wurde eingefroren.
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine war gerade einmal zwei Wochen alt, als die EU-Kommission die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Russland aussetzte. Die Idee, Forschende kollektiv für Taten ihrer jeweiligen Regierungen zu bestrafen, ist nicht neu: In der American Anthropological Association wurde 2016 knapp gegen eine Resolution für einen Boykott israelischer Forschungsinstitutionen gestimmt. Neu an den aktuellen Sanktionen ist die flächendeckende Unterstützung nationaler Regierungen und international renommierter Forschungsinstitutionen. Die Maßnahmen entspringen dem verständlichen und unterstützenswerten Impuls, in jeder nur erdenklichen Weise gegen Krieg und Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Allerdings führen sie auch zur Reduktion von Komplexität und zu einer erhöhten Bereitschaft, ein ganzes Volk mit seinem Regierungsregime gleichzusetzen.

Ein wesentliches Problem an undifferenzierten Sanktionen ist, dass Forschungsinhalte grundsätzlich nicht mit nationalen Grenzen korrespondieren: Wenn gemeinsame Forschungsprojekte zu Permafrost in Sibirien lahmgelegt werden, betreffen die Folgen nicht nur Sibirien: Es geht wichtiges klimabezogenes Wissen für die gesamte Menschheit verloren. Ähnliches gilt für Forschung zu Migrationsrouten von Zugvögeln, für international vergleichende Forschung zu Bildungssystemen und Bildungsverläufen und für Forschungskooperationen zu Krebs, Covid oder anderen medizinischen Themen.

Schwarz-Weiß-Denken

Die undifferenzierten Sanktionen fördern zudem ein für die Kriegslogik typisches Schwarz-Weiß-Denken und ein Kategorisieren entlang vermeintlich klarer Grenzlinien. Wissenschaftliche Akteure agieren nicht in machtfreien Räumen, und Forschungsprojekte sind häufig von nationalen Fördergebern abhängig: Immer wieder war und ist die Wissenschaft auch an der Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen durch Regierungen beteiligt. Aber undifferenzierte Sanktionen sind nur bedingt hilfreich gegen dieses Problem, weil sie Ambivalenzen und Komplexitäten unsichtbar machen: Zum einen berücksichtigen sie nicht die Stimmen tausender russischer Forschender, die bereits Anfang März einen offenen Brief an Wladimir Putin unterzeichnet haben und damit hohe Strafen riskieren. Zum anderen stärken sie das Bild, dass Forschung innerhalb der EU prinzipiell über jeden moralischen Zweifel erhaben sei.

"Kriegsfördernder oder kriegsunterstützender Technologietransfer muss unterbunden werden."

Diejenigen russischen Universitäten, Rektorate und Forschenden, die Putin und den Krieg entweder mit ihrer Forschung oder mit öffentlichen Statements unterstützen, müssen selbstverständlich sanktioniert werden. Auch kriegsfördernder oder kriegsunterstützender Technologietransfer muss unterbunden werden. Allerdings wäre dies bereits vor langer Zeit notwendig gewesen: Der erste Krieg unter der Führung Putins begann 1999 in Tschetschenien. Auf diesen folgten der Georgien-Krieg, die Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine, der Krieg in Syrien und der Einsatz russischer Söldner in mehreren afrikanischen Staaten. Auch die Auftragsmorde und Mordversuche und die staatlich gelenkte Desinformation waren schon lange vor dem Angriffskrieg bekannt.

Die Sanktionierenden müssen sich außerdem die Frage gefallen lassen, warum mit zweierlei Maß sanktioniert wird und es keine Folgen gab, als Putins Bomben Syriens Städte und Menschen trafen oder als die Militärs anderer Staaten folterten, vergewaltigten und töteten.

Alternative Forschungsbewertung?

Undifferenzierte Sanktionen gegen russische Forschungseinrichtungen greifen auf nationale Denkmuster zurück und befeuern eine Frontstellung, die der Logik des russischen Präsidenten entspricht. In einer neoliberalisierten Wissenschaft, in der das bloße Zählen von Publikationen, Zitationen und Forschungsgeldern immer relevanter wird, auch zum Nachteil kritischer Forschung, ist der Abbruch von Forschungsbeziehungen ein hohes Risiko für den Forschungsstandort Russland.

Eine sinnvollere Möglichkeit wäre es, die Finanzierung von Forschungsprojekten nicht von ihrem Forschungsstandort abhängig zu machen, sondern von ihren Inhalten und ihrer Nützlichkeit für Demokratisierungsprozesse, Nachhaltigkeit, Inklusion und die Förderung kritischen Denkens. Einer solchen Überprüfung müssten sich dann auch Projekte, die an Forschungseinrichtungen innerhalb der EU angesiedelt sind, stellen. Eine entsprechende Bewertung müsste sich mit komplexen moralischen Dilemmata auseinandersetzen und Wege des Umgangs mit diesen finden. Im Grunde ein wesentlicher Aspekt dessen, was gute Wissenschaft ausmacht. (Nadja Thoma, 8.4.2022)