Das Phänomen blieb am Wahlsonntag fast unbeachtet, verdrängt vom Duell des amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron gegen die Rechte Marine Le Pen: Die konservativen Republikaner und die Sozialistische Partei haben einen historischen Absturz erlebt. Er bedeutet nichts weniger als eine tektonische Verschiebung.

Les Républicains (LR) und ihre gaullistischen Vorgängerparteien der bürgerlichen Rechten und der – in Wahrheit sozialdemokratische – Parti Socialiste (PS) hatten in Paris seit dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger abwechselnd regiert. Charles de Gaulle gründete 1958 die Fünfte Republik, François Mitterrand führte 1981 die Sozialisten an die Macht; dann folgten wieder Gaullisten wie Jacques Chirac.

Der amtierende Präsident Emmanuel Macron und die Rechte Marine Le Pen.
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Damit ist jetzt Schluss. Die Republikanerin Valérie Pécresse erhielt am Sonntag gerade einmal 4,8 Prozent der Stimmen. Die Sozialistin Anne Hidalgo fiel auf sage und schreibe 1,7 Prozent der Stimmen zurück. Die Titanic lässt grüßen. Zeichen des Niedergangs der einstmals stolzen Gaullisten: Pécresse musste am Montag mit übernächtiger Miene vor die TV-Kameras treten, um von den Franzosen eine Geldspende zu erbetteln. Ihre Partei hat zu wenig Stimmen gewonnen, um die Wahlkampfgelder zu erhalten. Sie riskiert den Bankrott. Für den Parti Socialiste gilt dasselbe. Es bleibt das Bild von Funktionären, die ihr Ein-Prozent-Resultat im Pariser Restaurant Poinçon mit offenen Mündern annahmen. Im Saal: Totenstille.

"Härtere" Wähler

Wo die Millionen Stimmen der einstigen Pariser Platzhirsch-Parteien hingegangen sind, ist unschwer zu sehen: zu Macron, zur Rechts-außen Marine Le Pen und zum linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon. Viele gemäßigte Republikaner, aber auch viele Sozialisten sind schon 2017 zu Macron übergelaufen. Nun sind auch die "härteren" Wähler dort. Statt einer Linken und Rechten, wie es Frankreich seit der Revolution von 1789 kannte, dominieren nun Rechts- und Linkspopulisten am Rand des politischen Spektrums, während die Macronisten das politische Zentrum beherrschen.

Diese Trends riechen vielleicht noch stärker nach Klassenkampf als der alte Rechts-links-Kontrast und wecken ungute Erinnerungen an die Gelbwesten-Krise. Die Entwicklung ist in Frankreich nicht neu, sie hat sich seit langem abgezeichnet. Vollendet wurde die Zerstörung der Altparteien durch Macron.

Der wiederkandidierende Präsident musste sich am Montag gegen den Vorwurf verteidigen, er habe moderate demokratische Parteien beseitigt. "Das ist nicht meine Verantwortung, das ist Wählerwille", erklärte er. Wenn der Präsident so bedrängt wird, dann auch wegen der Angst vor einem Wahlsieg Le Pens in zwei Wochen. Sein Programm ist dünn und ambivalent, sein Wahlkampfeinsatz war mager.

Anders Le Pen: Sie verströmt Energie und steht für eine echte Alternative. Das macht die Lage ungemütlich. Macron hat zwar taktisch brillant Gegner in der politischen Nachbarschaft ausgeschaltet. Damit stärkte er aber auch die Radikalpopulisten. Le Pen könnte ihm in zwei Wochen sogar zu stark werden. (Stefan Brändle, 11.4.2022)