Im Ukraine-Krieg werden viele Regeln neu geschrieben. Da sind, zumindest auf dem Papier, übermächtige Truppen, die sich nicht gegen eine viel kleinere Verteidigungsarmee durchsetzen können, weil sich ihre Führung ganz offensichtlich nicht ordentlich vorbereitet hat. Da ist ein Schulterschluss demokratisch regierter Nationen weltweit, wie es ihn bisher nicht gegeben hat. Da ist aber auch eine Kiewer Diplomatie, die alle Gepflogenheiten über Bord wirft und das sucht, was man in dem Metier eigentlich tunlichst vermeidet: die offene Provokation und Konfrontation.

Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, versteckt sich schon seit Monaten nicht mehr hinter diplomatischer Verklausulierung, sondern spricht direkt aus, was aus Sicht der Ukraine falsch läuft in der deutschen Außenpolitik. Er schreckt nicht davor zurück, die aus Kiewer Sicht allzu Russland-freundliche Politik des vormaligen Außenministers und nunmehrigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier anzuprangern; eine Politik, die letztlich den russischen Angriff auf die Ukraine erst möglich gemacht habe. "Die Aufarbeitung kommt noch. Shame on you", wetterte der Diplomat in verblüffender, für manche auch empörender Direktheit.

Andrij Melnyk wetterte: "Die Aufarbeitung kommt noch. Shame on you."
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Völlig undiplomatisch tritt auch der ukrainische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Sergej Kyslyzja, auf. Er sagte zu Kriegsbeginn zu Wassili Nebensja, seinem russischen Gegenüber im UN-Sicherheitsrat: "Für Kriegsverbrecher gibt es kein Fegefeuer. Sie fahren direkt zur Hölle, Botschafter."

Konfrontation, um Aufmerksamkeit zu erreichen

Was diese konfrontative Form der ukrainischen Diplomatie bezweckt, ist jedenfalls sonnenklar: Aufmerksamkeit erzielen, den Finger in Wunden legen, gegen das Vergessen und die Gleichgültigkeit ankämpfen. Das hat oberste Priorität – auch um den Preis zwischenzeitlicher Irritation. Um Aussprache, Klärung, sogar Versöhnung kann man sich später kümmern.

Denn in einem Fall hätte die Ukraine ihren Kampf ums Überleben schon jetzt verloren: wenn die Solidarität, die Waffenhilfe, das politische Engagement für die Verteidiger nachlassen würden; und womöglich auch die Sanktionen gegen den Aggressor. Das will, ja das muss Kiew verhindern.

Gegen die Gewöhnung an die grauenhaften Bilder aus Butscha und Mariupol, gegen die Resignation und gegen das Vergessen kämpft natürlich auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seinen allabendlichen TV-Ansprachen und in seinen zahlreichen Gastauftritten in Parlamenten weltweit. Wann, sehr geehrtes Nationalratspräsidium, wird er Gelegenheit bekommen, dies endlich auch in Österreich zu tun – dem Diktum unserer Regierungsspitze folgend, nichts unversucht zu lassen?

Abwenden darf keine Option sein

Es wäre ein Sündenfall der Verbündeten der Ukraine, würde dieser Krieg allmählich aus dem Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken; würde unsere Betroffenheit nachlassen; würde der Umstand unwidersprochen bleiben, dass eine Brigade für offensichtliche Kriegsverbrechen vom Kreml geehrt wird.

Das wäre letztlich eine Parallele zu dem, was mit Syrien geschah. Einfach zuzusehen oder sich gar abzuwenden – das darf keine Option sein. Letztlich ist es das, was uns die ukrainische Diplomatie klarmachen will. Unsere Antwort an sie sollte nicht Empörung, sondern Verständnis für eine Notlage sein, in der die Existenz einer Nation auf dem Spiel steht. (Gianluca Wallisch, 19.4.2022)