Im Gastblog kritisiert der Schulsprecher des GRG6 Rahlgasse, Mati Randow, die fehlende Auseinandersetzung mit politischen Ereignissen im Bildungssystem.

In der Schule werden die nächsten Generationen geprägt, hier liegt die Grundlage für das Bestehen einer Demokratie. Maßgeblich dafür ist ein politisches Bewusstsein bei Schülerinnen, Schülern, Lehrerkräften und Co. Wer eine beliebige Klasse in Österreich besucht, wird feststellen: Dieses Bewusstsein wird nicht ausreichend gebildet. Stattdessen zieht sich ein hohes politisches Unwissen durch unser Schulwesen. Das wird nicht mehr lange gutgehen.

Das politische Jahrhundert

Die Diskussion um politische Bildung ist nicht neu. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach Adolf Exner in seiner Antrittsrede als Universitätsrektor von einem "politischen Jahrhundert", das bevorstehe und dessen Probleme man nur mit "Logarithmen und Bussolen" nicht lösen können werde – er sollte recht behalten. Allgemein gilt Exner als Begründer des Begriffs der "politischen Bildung". So plädierte er auch dafür, einen Sinn für Politik schulfächerübergreifend zu vermitteln, nicht bloß in einem einzigen Unterrichtsgegenstand. Man würde ja auch nicht nur in Deutsch Texte lesen, so die Argumentation.

1976, also viele Jahrzehnte später, kamen im baden-württembergischen Beutelsbach führende Politikdidaktiker verschiedener Couleur zusammen, um zum Thema politische Bildung zu tagen. Als Ergebnis entstand der sogenannte "Beutelsbacher Konsens", welcher Grundsätze für politische Bildung festlegen sollte. Eines der definierten Ziele: jede Schülerin, jeden Schüler zu befähigen, "eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, (sie) im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen" – eine Mischung aus Sach- und Partizipationskompetenz.

Im österreichischen Schulalltag ist von diesen – immerhin im deutschen Sprachraum entstandenen – Grundsätzen nichts zu spüren. Schon seit 1978 ist politische Bildung zwar gesetzlich als Unterrichtsprinzip verankert, das in allen Gegenständen eingebracht werden soll. Doch bis es wirklich zu einer Wissensvermittlung kommt, gibt es viele Hürden. So sind die wenigsten Lehrkräfte in politischer Bildung geschult und lassen sie, auch aus Angst, zu laienhaft zu unterrichten, lieber ganz sein. Schulleitungen überprüfen die Umsetzung des Unterrichtsprinzips nicht, und Schülerinnen und Schülern fehlt schlicht das Bewusstsein, den ihnen zustehenden Unterricht einzufordern. In Folge findet politische Bildung in keinem statt in allen Gegenständen statt.

Lehrerinnen und Lehrer sind selten in politischer Bildung geschult und lassen das Thema aus.
Foto: Andy Urban/derstandard

Mit den Krisen allein gelassen

Während die politische Bildung scheinbar stehengeblieben ist, hat sich die Umgebung, in der wir aufwachsen, stark verändert. Das Bild der unbeschwerten Jugend ist nicht mit der Gegenwart kompatibel – Unbeschwertheit ist wohl das, was uns jungen Menschen am meisten fehlt. Denn wir wachsen in einer Weltgesellschaft auf, wir sind vernetzt und schnell informiert. Wir erleben die Bedrohung durch Donald Trump als US-Präsidenten, die in Syrien, im Jemen oder der Ukraine wütenden Kriege genauso wie Konflikte in Österreich. So sieht unsere Politisierung aus. Während immer neue Krisen auf uns einprasseln, wir gesellschaftliche Bewegungen gegen Rassismus, Homophobie und Krieg erleben, bringt uns in der Schule niemand bei, mit ihnen umzugehen.

Wir werden mit dem alternativlosen Versuch, diese Ereignisse einzuordnen, allein gelassen. So ist es auch nicht erstaunlich, aber umso gefährlicher, dass sich laut Sora-Studie mehr als die Hälfte der jungen Menschen Sorgen über Klima, Pandemie und soziale Ungerechtigkeit macht, sich gleichzeitig aber nur sechs Prozent von der Politik vertreten fühlen. Wir schlittern auf eine zusätzliche Krise zu, eine Krise des Vertrauens in Politik und Institutionen.

Auf lange Sicht kann das unsere Demokratie so, wie wir sie uns vorstellen, gefährden. Um das zu verhindern, ist ernsthafte und umfassende politische Bildung unerlässlich. Ihre Wichtigkeit muss allen Beteiligten in der Schule bewusst gemacht werden, und dafür muss auch im Lehramtsstudium angesetzt werden. Schon in frühen Jahren müssen wir so unterrichtet werden, dass wir stark genug sind, die aktuellen und besonders die zukünftigen Herausforderungen zu meistern.

Neue Mittel und Wege

Je komplexer die politische Lage wird, desto schwieriger wird es auch, sich darin zurechtzufinden. Heute gilt es also erst recht, den Anspruch des Beutelsbacher Konsenses zu erfüllen. Was wir dafür brauchen, ist zunächst ein Angebot der älteren Generationen. Nicht zuletzt werden wir aber, um langfristiges Demokratiebewusstsein aufbauen zu können, gleichermaßen über die "Mittel und Wege" sprechen müssen, die Mitsprache für die Jungen und Jüngsten ermöglichen. Hier springen nicht nur Mindestwahlalter und Staatsbürgerschaftsrecht ins Auge, sondern gerade auch der desaströse Zustand des überschulischen Schülervertretungssystems. (Mati Randow, 28.4.2022)