Die digitalen Geisteswissenschaftlerinnen Antonia Nussmüller und Martina Bürgermeister geben im Gastblog Einblick in das Forschungsprojekt, das die Grundlage schafft, die historische Stadtentwicklung in Graz neu betrachten zu können.

In einem Forschungsprojekt (Becoming Urban - Reconstructing the city of Graz in the long 19th century, 2019-2021) haben Expertinnen und Experten der Universität Graz, des Graz Museums und des Stadtarchivs zusammengearbeitet, mit dem Ziel unterschiedliche Wahrnehmungen der Stadt im 19. Jahrhundert interaktiv erfahrbar zu machen. Damit folgen sie dem wachsenden Interesse in den Geisteswissenschaften am Raum und seinen diversen Darstellungsformen. Der Historiker Karl Schlögel schreibt in seinem 2003 erschienen Buch "Im Raume lesen wir die Zeit", dass es keine Geschichte im Nirgendwo gibt, dass alle Geschichte einen Ort hat. 

Ein solcher Ort für Geschichte ist nun eine Webanwendung, die unterschiedlichste Blicke auf die steirische Landeshauptstadt zulässt. Die digital nachhaltige Aufbereitung unterschiedlicher historischer Quellen, schafft eine neue (Daten-)Basis für die Analyse städtischer Entwicklung in einer Zeit, die sich stark über radikalen und raschen Wandel charakterisieren lässt.

Graz im 19. Jahrhundert

Graz wuchs und veränderte sich im Laufe des langen 19. Jahrhunderts (1789–1914) enorm. Die teilweise Zerstörung der Festung am Schlossberg zum Jahreswechsel 1809 auf 1810 war nur der Anfang rascher Veränderungsprozesse. Ausschlaggebend dafür waren die Industrialisierung, explodierende Bevölkerungszahlen und die damit verbundene räumliche Ausdehnung der Stadt, aber auch die Notwendigkeit der Umsetzung infrastruktureller beziehungsweise stadtplanerischer Maßnahmen durch die Entscheidungsträger dieser Zeit. Das führte sukzessive zu einem sich ändernden "moderneren" Stadtbild.

Um den Wandel der Stadt historisch und geographisch wahrnehmbar zu machen und konkrete Zeugnisse veränderter Verhaltens-, Lebens- und Wirtschaftsweisen in diesem Zeitraum ausfindig zu machen, wurden neben historischen Karten, auch Abbildungen des Stadtraums, wie Postkarten, frühe Fotografien oder Werke aus dem Bereich Grafik und textuelle Stadtbeschreibungen, aus Reiseführern und Reiseberichten, beigezogen.

Die Grafik zeigt das Stadtbild von Graz im Jahr 1829
beurb, CC-BY

Das historische Kartenmaterial und kartographische Daten

Karten dienen in diesem Projekt dazu, landschaftliche und bauliche Veränderungen aufzuspüren. Ausgangspunkt des Kartenmaterials bildet der Franziszeische Kataster aus dem Jahr 1829. Jene Mappenblätter dieses umfangreichen und exakten Kartenwerks, die sich auf den Raum Graz beziehen, wurden vom Geoinformationssystem (Gis) Steiermark digital zur Verfügung gestellt und werden als Referenzkarte genutzt.

Aus dieser Karte wurden alle Gebäude, Straßen, Plätze, Brücken, Gewässer, die Festungsmauern, Monumente und sämtliche Grünflächen im Grazer Stadtraum digital als Vektoren nachgezeichnet. Vektorgrafiken bieten im Gegensatz zu Rastergrafik (zum Beispiel ein Digitalfoto) die Möglichkeit, (geometrische) Formen in ihrer Position innerhalb des Bildes zu beschreiben. Gleiches wurde für ein zweites Kartenwerk – die sogenannten Feldskizzen von 1905 (bestehend aus 400 einzelnen Mappenblättern) – gemacht. 

Die Grafik zeigt das Stadtbild von Graz im Jahr 1905.
beurb, CC-BY

Forschungsdaten zur Stadtentwicklung

Diese umfangreichen Geodaten schaffen die Grundlage für räumliche Analysen. Das heißt, Veränderungen des Gebäudebestandes, des Straßennetzes usw. können nun maschinell analysiert und nachvollziehbar dargestellt werden. Beispielsweise lässt sich aus der Gegenüberstellung der Daten von 1829 mit den Daten zu 1905 nahezu eine Verdopplung des Gebäudebestandes für die Stadt Graz nachweisen. Auf der Darstellung des Stadtbildes von 1829 sind die Gebäude in Rot, Straßen und Plätze gelblich/braun und die Grünflächen in Grün dargestellt. Im Gegensatz dazu, macht das Grazer Stadtbild um 1905 das dominante Wachstum auf einen Blick erkennbar.

Neben den Kartenwerken für den Raum Graz aus 1829 und 1905 wurden zusätzlich 15 Altkarten ausgewählt, die im Zuge des Projektes digitalisiert und georeferenziert, das heißt einem georäumlichen Koordinatensystem zugeordnet, wurden. Die Abbildung der historischen Karte zeigt beispielhaft eine der 15 georeferenzierten Karten von Graz. Sie ist aus dem Jahr 1822. Im Hintergrund sieht man einen Ausschnitt aus der Verwaltungsgrundkarte von basemap.at.

Graz, 1922
beurb, CC-BY

Raumwahrnehmungen in Reiseberichten und Reiseführern

Reisebeschreibungen und Reiseführer waren im 19. Jahrhundert äußerst beliebt. Damals wie heute gehört in eine touristische Beschreibung der Stadt Graz Hauptplatz, Herrengasse, Dom und Burg, aber auch der Ausflug auf den Schlossberg und das Genießen des Ausblicks. Nur so kann und konnte man sich einen Überblick über die Stadt und die Region machen. Im beginnenden 19. Jahrhundert, in einer Zeit vormoderner Verkehrsmittel (die Bahnverbindung Graz-Wien wurde 1854 fertiggestellt), war allein schon das Erreichen der Stadt ein Abenteuer.

So zum Beispiel zu lesen bei Joseph Kyselak in seinem Reisebericht mit dem Titel Skizzen einer Fußreise durch Oesterreich, Steiermark, Kärnthen, Salzburg, Berchtesgaden, Tirol und Baiern nach Wien, nebst einer romantisch pittoresken Darstellung mehrerer Ritterburgen und ihrer Wolkssagen, Gebirgsgegenden und Eisglätscher auf dieser Wanderung, unternommen im Jahre 1825. Er hatte nämlich beschlossen, über die Mur mit einem Floß nach Graz zu kommen. Er beschreibt eine gefährliche Situation kurz vor dem Erreichen der Stadt: 

"... der Lauf war unerbittlich und donnernd stürzten wir ohngefähr fünf Schuh über eine Wehre herab; durch und über das Floß drängten sich die Wogen fußhoch auf sämmtliche Passagiers…pfeilschnell flohen wir nun durch eine liebliche Aue, die nur der erhabene Schloßberg durchspähte, der versteckten Stadt zu.
Nun hob sich der Vorhang, Leben und Frohsinn spielten die Rollen; Grätz war erreicht! Unter der gedeckten Brücke durch, am rechten Ufer (Lend), betraten wir das Land."

Der hier so lebendige Stil wird ab der Mitte des Jahrhunderts nüchterner. Mit der Zunahme des Tourismus, etablierte sich auch ein neues literarisches Genre: der Reiseführer. Er war Gebrauchslektüre, in der es nicht mehr um die ganz persönlichen Erlebnisse geht, sondern darum, möglichst viele nützliche Informationen für Reisende unterzubringen.

Reiseberichte digitalisiert

Im Zuge des Projektes "Becoming Urban" wurden 11 Reiseberichte (im Zeitraum zwischen 1808 und 1910), die Graz beschreiben, digital aufbereitet. Diese Texte sind wertvolle Zeugen historischer Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse. Sie berichten von historischen Orten in Graz, die auch heute noch Schauplätze vergangener, wie zukünftiger Begegnungen und Ereignisse sind. Gerade dieser Umstand der Kreuzung von historischem, sozialem, kulturellem Erleben macht das Genre der Reiseliteratur damals wie heute attraktiv. 

Um die unterschiedlichen städtischen Wahrnehmungen aus den Reisetexten quantitativ und geographisch auswerten zu können, wurden sämtliche in den Texten erwähnten Orte mit den aus dem Kartenmaterial erzeugten Geodaten verknüpft. Diese digitale Zusammenschau erschafft eine neue Leseerfahrung. Darin bewegen wir uns nicht nur über die Raumbeschreibungen durch die Stadt, sondern simultan mit dem Mauszeiger auf der Karte. Ein Screenshot veranschaulicht dieses Erlebnis. Auf der linken Seite wird die interaktive Karte dargestellt und rechts davon die historische Stadtbeschreibung. Als Bezugspunkt wird die Grazer Burg im Text und auf der Karte hervorgehoben.

Historische Reiseberichte bereichern die digitalen Kartendarstellungen.
beurb, CC-BY

Raumwahrnehmungen auf Abbildungen

Die Zeichen des „Urbanwerdens" lassen sich nicht bloß aus Stadtplänen oder textuellen Stadtbeschreibungen dieser Zeit herauslesen, sondern sie zeigen sich ebenso auf Grafiken, Gemälden, Postkarten und Fotos der Stadt. Die Methode des Bildvergleichs kann für eine Analyse der urbanen Entwicklung bzw. Veränderung besonders dann dienlich sein, wenn bevorzugt zwei Blickwinkel auf beliebte Bildmotive genauer untersucht werden, die gehäuft und wiederholt zu unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten:

  • Blicke auf Orte in der Stadt (Lokalsituationen) wie zum Beispiel prominente/repräsentative Plätze, Straßenzüge oder Bauwerke
  • Blicke auf die ganze Stadt bzw. gewisse Stadtteile wie zum Beispiel das Stadtzentrum. Hier spielen Aussichtspunkte auf Anhöhen (Hügel, Berg) und Aussichtswarten eine bedeutende Rolle. 

Alle im Projekt untersuchten Abbildungen – bisher rund 300 Grafiken, Fotos und Postkarten – sind auf der Webanwendung durchsuchbar. Das Material wurde so aufbereitet, dass es wahlweise chronologisch oder thematisch gesichtet werden kann. Vor allem für eine vergleichende Bildanalyse ist die Ansicht aller Ergebnisbilder chronologisch nebeneinander ein wertvolles Rechercheinstrument.

Historische Abbildungen des Jakominiplatzes in chronologischer Reihenfolge
beurb, CC-BY

Historische Abbildungen digitalisiert

Alle Bilder werden über einen „Viewer“ geladen, der auch eine detaillierte Betrachtung ermöglicht. Den thematischen Einstieg in das Material ermöglicht die auf normierten Daten aufbauende Schlagwortsuche. Die Verschlagwortung jeder einzelnen Abbildung erzeugt neue thematische Gruppierungen und erlaubt damit ein vollkommen neues Stöbern innerhalb des Bildbestands. So kann man nach Schlagworten, wie „Bildung“, „Arbeit“ oder „Baustelle“ suchen. Letzteres liefert zum Beispiel alle Abbildungen aus der Datenbank zurück, wo gerade eine bauliche Veränderung stattfindet.  Zu jeder Abbildung gibt es zudem umfangreiche Zusatzinformationen, wie die verbale Bildbeschreibung, eine Datierung, Informationen zur Herstellungstechnik usw. Wie auch bei den Textquellen ist es in der Webanwendung möglich, die Bildorte synchron auf der Karte zu betrachten, da auch die Abbildungen mit den Geodaten angereichert wurden.

Verknüpfung der Abbildung mit dem Geo-objekt auf der Karte
beurb, CC-BY

Druckgrafik, Fotografie und das Medium Postkarte sind als Massenmedien durch ihre rasche Produktion bzw. Reproduktion für Vergleichsanalysen geradezu ideale Quellen, auch wenn es darum geht, bestimmte Motive zu erforschen: Was kann man auf den Quellen konkret entdecken? Und: Warum wiederholen sich bestimmte Motive, Standpunkte und somit Blickwinkel auf die Stadt in manchen Zeiten gerne? Sogenannte Bild-Hot-Spots in und außerhalb von Städten (heute vielleicht vergleichbar mit angesagten Selfie-Points) zeigen nicht bloß, welche Orte in und Blickwinkel auf die Stadt zu welcher Zeit beliebt waren, sondern ermöglichen es, durch ihr gehäuftes Vorkommen im Wandel der Zeit typische Muster zu erkennen.

Ausblick 

Diese im Projekt „Becoming Urban“ neu entstandene digitale Anwendung schafft die Grundlage dafür, historische Stadtentwicklung in Graz neu betrachten zu können. Durch die Verknüpfung der Bild- und Textdaten mit den Geo-Daten können die unterschiedlichen Richtungen, aus denen der städtische Raum dokumentiert wird (Karten, Texte, Bilder), zusammengeführt und in neue Zusammenhänge gebracht werden.

Die nachhaltige Erzeugung und Speicherung dieser Daten sorgen dafür, dass diese weitergenutzt und verarbeitet werden können. Auch im Sinne dieser Nachhaltigkeit erweitert das Graz Museum die Datenbank stetig und betreut die Webanwendung auch gestalterisch. Damit sind die Forschungsdaten für die Zukunft gesichert und die stetig wachsende Sammlung von historischen Orten in Texten, Bildern und Karten, steht der Öffentlichkeit jederzeit und überall zur Verfügung. (Martina Bürgermeister und Antonia Nussmüller, 11.5.2022)

Weiterführende Literatur

  • Becoming urban. 2021. https://gams.uni-graz.at/context:beurb.
  • Reder, Christian (Hg.). Kartographisches Denken. Springer: Wien, New York 2012.
  • Ette, Ottmar. ReiseSchreiben. Potsdamer Vorlesungen zur Reiseliteratur. De Gruyter: Berlin, Boston 2020.
  • Schlögel, Karl. Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Hanser: Wien, München 2003.

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