Ein Jahr lang haben mehr als 50.000 Bürgerinnen und Bürger in der EU an der "Konferenz zur Zukunft Europas" teilgenommen, haben Ideen eingebracht, haben sich mit Gleichgesinnten oder Andersdenkenden ausgetauscht. Das Ergebnis ist ein bemerkenswertes, dicht formuliertes 56-seitiges Dokument, das nicht nur essenzielle Probleme für die Zukunft Europas beschreibt, sondern auch Lösungsmaßnahmen vorschlägt. Die Prioritäten für Klima-, Außen- und Migrationspolitik sind nachvollziehbar, ja geradezu zwingend.

Die politische Handlungsfähigkeit der EU ist gefährdet.
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Es sind aber weniger die Themen an sich, die am Europatag 2022 diskutiert werden müssen, sondern die Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Die EU stand sich schon oft selbst im Weg, und sie tut es auch heute. Wir haben zwar bei der Bankenkrise, beim Brexit und in der Pandemie gesehen, dass die EU zu Lösungen fähig ist: aber meist nur im hektischen Krisenmodus, selten aus einer Position der Souveränität heraus.

Angesichts der für den ganzen Kontinent bedrohlichen Lage in der Ukraine wäre es jetzt zum Beispiel notwendig, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU-Außenpolitik zu überdenken. Es geht ja nicht um militärisches Engagement, sondern um bloße politische Handlungsfähigkeit, die massiv gefährdet ist. Doch es fehlt an Einigkeit, an Einsicht, an Kompromissbereitschaft. Letztlich mangelt es an Vertrauen – ein Vertrauen, das man den eigenen Verbündeten im "Friedensprojekt Europa" aber vielleicht doch entgegenbringen könnte. Und sollte. (Gianluca Wallisch, 8.5.2022)