Der 9. Mai ist im gemeinsamen Europa wie auch in Russland – bis 1991 in der Sowjetunion – seit jeher ein ganz besonderer Tag. Ein Feiertag. Aber er wurde 2022 in zwei Welten begangen, die unterschiedlicher und einander fremder kaum sein könnten. Mitten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine spiegelte sich das am Montag auf besonders drastische Weise wider. Europa muss um die Zukunft bangen.

In den EU-Hauptstädten und in den EU-Institutionen ist der "Europatag" ein Fest von Aussöhnung, Frieden, Freiheit, Demokratie.
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In Moskau lässt Präsident Wladimir Putin den "Tag des Sieges" über Nazideutschland 1945 mit einer Militärparade abfeiern – Atomraketenschau inklusive. Er hielt eine Kriegsrede, rückwärtsgewandt. Von Frieden spricht er nicht. Sein Volk ist weit weg, kommt nicht zu Wort.

In den EU-Hauptstädten und in den EU-Institutionen ist der "Europatag" ein Fest von Aussöhnung, Frieden, Freiheit, Demokratie. Am 9. Mai 1950 hatte Frankreichs Außenminister Robert Schuman seine berühmte Erklärung abgegeben, Deutschland zur Kooperation in einer Montanunion eingeladen. Sie wurde zum Herzstück der Europäischen Union.

Um diesen "europäischen Geist" zu beschwören, lud das Europäische Parlament in Straßburg zur Präsentation der Ergebnisse eines "Zukunftskongresses" ein. Vor allem junge Leute hatten ein Jahr lang Ideen für EU-Reformen erarbeitet, die sie im Plenarsaal präsentierten – vor den Spitzen der EU-Institutionen. Ein engagierter, friedlicher Prozess.

Aber es ist nun nicht gerade die Zeit für gemächliche Reformvorhaben. "Der Krieg ist zurückgekehrt", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen dringend handeln, die Gemeinschaft stärken. In Zeiten von Krisen und Kriegen hat sich die Gemeinschaft oft bewährt. "Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen", sagte Schuman. Das gilt 2022 besonders. (Thomas Mayer, 10.5.2022)