Es ist rund 23 Jahre her, dass die größte Hochschule des Landes zuletzt von einem Geisteswissenschafter geleitet wurde. Im Oktober löst der Kunsthistoriker Sebastian Schütze den Mathematiker Heinz Engl als Rektor der Uni Wien ab – allein das habe eine "stärkere Wahrnehmung für diesen Fächerkanon mit sich gebracht", sagt er. Die gesellschaftliche Verantwortung der Uni sieht er besonders auch in der Lehrerinnenausbildung. Weitere Zugangsbeschränkungen hält Schütze derzeit für nicht notwendig.

STANDARD: Gerade ist die Begutachtungsfrist des Gründungsgesetzes der TU Linz zu Ende gegangen. Die Kritik ist groß: An der Wissenschaftlichkeit etwa wird gezweifelt, und Unis fürchten, dass durch die neue TU ihre Budgets schrumpfen. Ist da was dran?

Schütze: Die Frage ist, wie das österreichische Hochschulsystem aufgestellt sein soll. Es ist bereits sehr divers und breit. Wenn Neugründungen immer aus den gleichen finanziellen Mitteln kommen, ist das ein Problem. Mit Blick auf die internationale Konkurrenz sollten wir Ressourcen konzentrieren, anstatt sie noch breiter zu verteilen.

STANDARD: Bildungsminister Martin Polaschek hat versichert, dass es keine Nachteile für die anderen Unis geben wird. Glauben Sie daran?

Schütze: Erstmal wird man das natürlich glauben, ja. Die Erfahrung lehrt, dass das Geld meistens nicht mehr wird. Die Finanzierung muss auch weiter für die Unis gesichert sein, die wir schon haben.

Sebastian Schütze über die Skepsis gegenüber der Wissenschaft: "Die Covid-Pandemie war für große Teile der Gesellschaft sehr speziell. Ich würde das nicht überbewerten."
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STANDARD: In der Pandemie entwickelten Teile der Bevölkerung eine immer größere Skepsis gegenüber der Wissenschaft. Ist diese in der Krise?

Schütze: Man muss unterscheiden: Wer hat da Angst vor der Wissenschaft, und wer sieht das als Krise der Wissenschaft? Sehr weite Teile der Bevölkerung und der Politik haben den enormen Beitrag, den die Wissenschaft zur Krisenbewältigung geleistet hat, sehr wohl wahrgenommen. Die Covid-Pandemie war für große Teile der Gesellschaft sehr speziell. Ich würde das nicht überbewerten.

STANDARD: Wie kann die Wissenschaft das Vertrauen dieser Menschen zurückgewinnen??

Schütze: Es ist nicht einfach. Wir haben eine enorme Verantwortung. Vieles lässt sich nicht kurzfristig lösen. Wenn wir uns in der Lehrerinnenausbildung stärker auf die Frage der Medienkompetenz fokussieren, können wir mittelfristig sehr viel erreichen. Da holen wir die Leute ab, wenn sie sich noch abholen lassen.

STANDARD: Muss auch die Universität jüngere Kommunikationsformen finden, um junge Generationen zu erreichen?

Schütze: Das ist zentral. The medium is the message. Gewisse Inhalte in normalen Formaten, zum Beispiel einen langen Aufsatz mit ganz vielen Anmerkungen, werden nicht von allen wahrgenommen. Aber da gibt es auch schon Aktivitäten. Wir haben zum Beispiel "Was bisher geschah" gegründet. Da geht es darum, dass Inhalte aus unseren Fachzeitschriften durch jüngere Kolleginnen und Kollegen auf Formate heruntergebrochen werden, die sich auch auf Social-Media-Kanälen verbreiten lassen. Diese Übersetzungsleistung ist enorm. Die Kommunikationsformate für jüngere Generationen finden am besten durch Mitarbeit der jüngeren Generationen statt. Deshalb binden wir stark Nachwuchswissenschafterinnen und -wissenschafter ein.

STANDARD: Die Uni Wien ist ein wesentlicher Faktor in der Lehrerinnenausbildung. Zuletzt kritisierten Gewerkschaften, dass der Lehrerinnenmangel in Wien durch die Reform der Ausbildung zustande kam. Setzen Sie sich für eine Reform der Reform ein?

Schütze: Das ist nicht unbedingt zielführend. Die Lehrerausbildung ist ein Multiplikationsfaktor enormer Größenordnung für zentrale Themen der Gesellschaft. Da ist mir die Qualität zunächst mal wichtiger als schnelle Abschlüsse.

STANDARD: Welche neuen Inhalte braucht es in der Lehrerausbildung?

Schütze: Die Zwangsläufigkeit der Covid-Krise hat einen enormen Innovationsschub ausgelöst. Den sollte man mitnehmen. In der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrern muss die Frage des Einsatzes von digitalen Medien eine Rolle spielen. Man erhält mittlerweile mehr Informationen, als man braucht. Das kritische Instrumentarium, um zu unterscheiden: Das ist vertrauenswürdig, das ist sachlich, das sind keine Fake-News – das ist für die Zukunft, an den Schulen, an der Uni, das zentrale gesellschaftliche Thema.

STANDARD: In den vergangenen zwei Jahren wechselten Studierende zwischen Distance-Learning, hybridem Lernen und Präsenzlehre hin und her. Expertinnen erwarten die nächste Covid-Welle im Herbst. Wie bereitet sich dich Uni Wien auf einen möglichen Anstieg der Ansteckungen vor?

Schütze: Wir bewegen sehr viele Leute: 90.000 Studierende und ungefähr 10.000 Angestellte. Bei 100.000 Leuten ist die Verantwortung bezüglich ihrer Gesundheit besonders groß. Ein Schluss, den wir aus der Krise gezogen haben, ist, dass der Kern der Uni Wien eine Präsenz-Uni ist, dass da am meisten dabei herauskommt und dass wir alles versuchen werden, um so viel Präsenz-Uni wie möglich zu machen.

Ein Online-Studium im engeren Sinne wird es unter dem neuen Rektor der Universität Wien nicht geben. Für mehr Flexibilität kann er sich jedoch ein digitales Angebot von Vorlesungen vorstellen.
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STANDARD: Während der Pandemie wurden viele Vorlesungen und Seminare online abgehalten. Wie viel Online wird bleiben?

Schütze: Ein Online-Studium im engeren Sinne wird es nicht geben. Ich kann mir vorstellen, große Vorlesungen auch online anzubieten – für mehr Flexibilität. Bei allen anderen Formate, bei denen es um Diskussion und gemeinsames Arbeiten geht, ist online keine Alternative. Und: Wir haben gesehen, dass die erzwungene Online-Lehre etwa auch sehr starke soziale Auswirkungen hat oder dass Differenzen wieder hervortreten. Es macht einen Unterschied, wie ich wohne, welche digitale Ausstattung man hat. Es ist auch eine Frage der psychischen Gesundheit, Vereinsamung, Depression, und das ist nicht bei zwei Studierenden, sondern bei hohen Prozentsätzen.

STANDARD: Wie wollen Sie die Spitzenleistungen in der Forschung an der Uni Wien vorantreiben?

Schütze: In vielen Bereichen sind wir bereits sehr gut aufgestellt und haben ausgezeichnete Leute. Potenzial an Exzellenz und kreativer Forschung liegt an den Schnittstellen – etwa zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften oder den Natur- und Technikwissenschaften. Die Aufgabe ist es, diese Schnittstellen durch Querstrukturen und Forschungsverbünde zu fördern; sowohl innerhalb als auch über die Universitätsgrenzen hinaus. Strategische Berufungen sind der zweite Weg.

STANDARD: In welchen Themenfeldern muss mehr kooperiert werden?

Schütze: Der Bereich Umwelt, Klima und Ressourcenverwendung ist ein Feld, das von vielen verschiedenen Fächerperspektiven bearbeitet werden muss – die sozialen Folgen des Klimawandels, Politik und Umwelt, Klimamigration. Hier sind wir dabei, solche Strukturen zu etablieren.

STANDARD: Wie sollen diese neuen Strukturen finanziert werden?

Schütze: Ich und das neue Rektorat werden einen Schwerpunkt setzen. Neben den bereits zur Verfügung sehenden Ressourcen muss man sich bemühen, auch neue Mittel zu erschließen, die über unsere üblichen Förderkanäle hinausgehen. Denn Innovation ist unsere Kernaufgabe.

STANDARD: Finanzierungen aus der Wirtschaft beispielsweise?

Schütze: In der angewandten Forschung könnten wir zusätzliche Mittel generieren, die zum Teil aus dem Ministerium, der Wirtschaft oder der Industrie kommen.

STANDARD: Kann man als Universität noch ohne Geldern aus der Wirtschaft auskommen? Und wie verhindert man eine Einflussnahme auf die Forschung?

Schütze: Es wäre leichtsinnig – das sieht man auch international –, Förderungen außerhalb der staatlichen grundsätzlich abzulehnen. Das bedeutet nicht, dass uns ein Geldgeber sagt, was wir forschen müssen. Man kann auch gemeinsam Forschungsfelder entwickeln. Es ist eine Möglichkeit, neue Dinge auszuprobieren und zu finanzieren. Das passiert in Österreich derzeit sehr reduziert. Aber angewandte Forschung muss immer zu unserem Profil passen.

STANDARD: Kann man Wissenschaft und Wirtschaft noch trennen?

Schütze: Nein. Aber es gibt aus allen Richtungen noch große ideologische Vorbehalte. Eine Aufgabe wäre es, diese produktiv aufzuweichen.

Eine angestrebte Platzierung in den Uni-Rankings will Sebastian Schütze nicht beziffern. Anders als Eliteunis wolle die Uni Wien aber "inklusiv" sein: "Das sollten wir auch selbstbewusster und stärker thematisieren."
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STANDARD: Die Universität Wien belegt im "Times"-Ranking Platz 137. Wohin wollen Sie in den nächsten Jahren?

Schütze: Eine Zahl werden Sie nicht bekommen, das wäre leichtsinnig. Diese Rankings sind relativ. Trotzdem sind sie eine Kenngröße, mit der manche gerne arbeiten. Natürlich ist es mein Ziel, die Uni Wien nach vorne zu bringen. Aber es gibt da einen Zusammenhang zwischen Budget und Rankingplatz. Die Universitäten, die diese Rankings anführen, haben andere Bedingungen. Wir wollen aber gar nicht so sein wie diese Elite-Unis. Sie sind sehr exklusiv in vieler Hinsicht. Wir wollen inklusiv sein, das sollten wir auch selbstbewusster und stärker thematisieren.

STANDARD: Seit vergangenem Jahr ist an den Hochschulen eine neue Kettenvertragsregelung in Kraft. Nach acht Jahren ist Schluss. Drängen Sie – wie Ihr Vorgänger – auf Lockerungen?

Schütze: Das ist für uns eine Katastrophe. Wir werden sicher nicht aufhören, für eine Änderung einzutreten. Insgesamt ist die Uni Wien Teil eines sehr kompetitiven internationalen Umfelds. Eine ausgewogene Mischung zwischen befristeten und unbefristeten Verträgen ist notwendig, damit wir kompetitiv sind. Ein klarer Karrierepfad – Prae-Doc, Post-Doc, Tenure-Track – ist ein international funktionierendes Modell. Das bedeutet natürlich, dass man sich in der Karriereplanung auch auf die Acht-Jahre-Grenze einstellt. Man kann sich also nicht fix darauf einstellen, dass man hier an der Uni Wien beginnt und zum Schluss auch hier eine unbefristete Stelle hat.

STANDARD: Mehr als die Hälfte der Doktoratsabsolventen, aber nur noch ein Drittel der Professuren sind weiblich besetzt. Was werden Sie tun, damit Ihre Nachfolge eine Frau ist?

Schütze: Bei jeder Personalentscheidung kommt es auf die Personen an. In den vergangenen Jahren sind wir in puncto Gender-Balance weit vorangekommen. Wir sind aber nicht am Ziel, und es gibt große Unterschiede zwischen den Fächergruppen. Wir müssen Frauen ein klares Karrieremodell bieten. In Fächern, wo es nicht ausgewogen ist, kann das Rektorat Akzente setzen. Schon jetzt "kosten" Frauen den Fakultäten bei bestimmten Tenure-Track-Stellen weniger Personalpunkte als Männer. Solche Anreize werden wir weiter setzen. (Oona Kroisleitner, 20.5.2022)