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PRO: Ein breiteres Angebot

von Oona Kroisleitner

Er wird es schon machen. Das prophezeit Bundespräsident Alexander Van der Bellen nicht nur die Historie, sondern auch Umfragen. Aus der Geschichte lernt man: Kandidiert ein Staatsoberhaupt für eine zweite Amtsperiode, hat es die Wahl eigentlich in der Tasche. Befragungen sehen Van der Bellen ebenfalls unangefochten an der Spitze. Wieso sollte sich also jemand – trotz der Gefahr, als Verliererin dazustehen – um das Amt bewerben? Warum sollen ÖVP oder SPÖ jemanden in die erste Reihe stellen und auf vielleicht verlorenem Posten in den Wahlkampf schicken?

Damit die Bevölkerung mehr Auswahl hat. Denn obwohl die Mehrheiten so gut wie fix wirken, braucht es ein Angebot an die Bevölkerung, das über den Amtsinhaber und – aller Voraussicht nach – die FPÖ auf der gegenüberliegenden Seite des Parteienspektrums hinausgeht. Gibt es für sie keine Option, frustriert das; man wählt zwischen dem kleinsten Übel oder schreitet erst gar nicht zur Urne – in Zeiten der Politikverdrossenheit und der vielzitierten Spaltung der Gesellschaft kein gutes Signal. Auch für eine lebendige inhaltliche Auseinandersetzung braucht es mehr als zwei Standpunkte. Jeder Wahlkampf bietet die Chance, Themen zu setzen, Probleme anzuprangern, neue Ideen zu bewerben.

Zuletzt gibt es den Unsicherheitsfaktor: was, wenn es doch keine gmahde Wiesn für Van der Bellen ist? Die letzte Bundespräsidentschaftswahl hat gezeigt, dass alles passieren kann. (Oona Kroisleitner, 23.5.2022)

KONTRA: Mut zu etwas Harmonie

von Colette M. Schmidt

Klar wäre es in einer idealen Welt wunderbar, wenn so viele geeignete Personen – mit oder ohne Unterstützung einer Partei – für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren würden wie nur möglich. Es wäre wünschenswert, dass man einmal bei einer Wahl vor lauter ausgezeichnetem Angebot gar nicht wüsste, wen man wählen soll.

Doch in der echten Welt durchlaufen wir seit Jahren eine Krise nach der anderen. Die Ressourcen werden knapp, nicht nur in der Welt, sondern bei jedem Einzelnen. Es ist nicht die schlechteste Nachricht für die Bevölkerung, dass fast alle Parteien – außer der FPÖ – mit dem Amtsinhaber einverstanden sind. Wie laut Umfragen übrigens auch die Mehrheit der Wählerschaft. Parteien müssen nicht krampfhaft versuchen, eigene Kandidatinnen oder Kandidaten aufzustellen, wo gerade das Amt des Bundespräsidenten ja parteifrei zu sein hat.

Niemand sehnt sich nach aufwendigen Wahlkampfschlachten, die Unsummen an Geld verschlingen. Wenn irgendetwas in diesem Jahr zwischen Krieg und neuer Corona-Welle skandalfrei und unaufgeregt läuft, soll dem Land nichts Schlimmeres passieren. Es ist nicht undemokratisch, wenn sich viele Parteien auf etwas einigen. Es bleibt ohnehin zu bezweifeln, dass es ein allzu ruhiger und fairer Wahlkampf wird. Die FPÖ wird sich sicher bemühen, Aufreger zu finden: irgendwas mit Ausländern. Oder vielleicht Impfungen. (Colette M. Schmidt, 23.5.2022)