Die EU muss andere Andockmöglichkeiten neben der Vollmitgliedschaft schaffen, schreibt der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer in seinem Gastkommentar.

Wann und vor allem wie Wladimir Putins Angriffskrieg in der Ukraine zu Ende gehen wird, wissen wir heute noch nicht. Aber bereits in der Gegenwart zeichnet sich ab, dass die Rolle der Europäischen Union eine ganz andere sein wird als bisher.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zwingt Europa, sich neu zu positionieren: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
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Die EU war die Antwort des westlichen Teils des europäischen Kontinents auf die Gewaltexplosionen zweier Weltkriege, verursacht durch die tiefen Erschütterungen von Industrialisierung und Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert. Diese historischen Prozesse führten zu der völligen Zerstörung der traditionellen europäischen Ordnung und der Beherrschung des gesamten europäischen Kontinents durch die zwei nichteuropäischen Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges, den USA und der Sowjetunion. Nach 1945 führte der materiell und ideologisch nicht mögliche Interessenausgleich sehr schnell zwischen den beiden Hauptkontrahenten in Ost und West zu einem Europa in zwei Teile spaltenden Kalten Krieg mit seinem nuklearen Rüstungswettlauf.

Westeuropa war damals wirtschaftlich am Ende und militärisch einer Bedrohung durch eine sowjetische Invasion ausgeliefert. Ohne den wirtschaftlichen Marshallplan und die militärische Schutzgarantie seitens der USA wäre Westeuropa kaum überlebensfähig gewesen. Militärisch sicherte die Gründung der Nato den westlichen Teil des Kontinents sowohl gegen die Gefahr aus dem Osten als auch gegenüber einem wiedererstehenden, gleichwohl geteilten, Deutschland; ökonomisch entwickelte sich aus dieser Situation die Idee einer westeuropäischen Friedensordnung, die auf wirtschaftlicher Integration in einem gemeinsamen Markt, gemeinsamen Institutionen – bis hin zu völliger Integration der beteiligten Staaten – und gemeinsamer Rechtsordnung gründen sollte. Damit sollten nicht nur die sozioökonomischen und politischen Ursachen des für Europa so verheerenden Nationalismus für immer überwunden werden, sondern auch eine dauerhafte Integration des Unruhefaktors Deutschland mit seiner starken Wirtschaft in Europa abgesichert werden.

Verbindliche Garantien

Im Laufe der Jahrzehnte entwickelten sich militärisch die Nato und wirtschaftlich die EU zu den beiden tragenden Säulen europäischer Sicherheit und europäischen Wohlstandes und damit der westeuropäischen Ordnung. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kalten Krieges nach 1989 stellte sich die Frage nach einer gesamteuropäischen Ordnung, die durch die Übernahme der beiden westlichen Grundpfeiler Nato und EU und deren Ausdehnung auch auf östliche Mitgliedstaaten beantwortet werden sollte. Vor allem in der Frage der militärischen Sicherheit wollten zahlreiche ehemalige Sowjetrepubliken und Warschauer-Pakt-Staaten verbindliche Garantien gegen eine Revision der europäischen Ordnung seitens Russlands durch einen Beitritt zur Nato und im besten Falle auch zur EU.

Gemeinsame Sicherheit und gemeinsamer Markt lautete das Versprechen. Durch wirtschaftlichen Austausch bis hin zur sektoralen Verflechtung sollten die letzten Reste der alten Ost-West Konfrontation im Verhältnis zu Russland beseitigt und eine dauerhafte gesamteuropäische Friedensordnung gewährleistet werden.

"An die Stelle von wirtschaftlichem Austausch und Zusammenarbeit ist wieder ein geteilter Kontinent getreten, beherrscht von Aggression bis hin zu nuklearer Erpressung."

Russland verfolgte jedoch unter den Präsidenten Putin und Dmitri Medwedew eine andere Politik, nämlich die Wiedergewinnung des Weltmachtstatus für Russland durch die Sammlung "russischer Erde" – sprich der Revision der postsowjetischen Ordnung. Heute wissen wir, dass Moskau auf die Wiederherstellung des Imperiums setzte, auf Vergangenheit statt Zukunft. In der Ukraine spitzte sich dieser Konflikt angesichts des Freiheitswillens der Ukrainer über die Jahre hinweg zu, hin bis zum russischen Angriffskrieg am 24. Februar diesen Jahres.

Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist das friedliche Zusammenleben zwischen Russland und der EU bis auf Weiteres gescheitert. An die Stelle von wirtschaftlichem Austausch und Zusammenarbeit ist wieder ein geteilter Kontinent getreten, beherrscht von Aggression bis hin zu nuklearer Erpressung. Für die EU bedeutet dies eine fundamentale Veränderung. Die Sicherheitsfrage und ihre geopolitischen Interessen werden fortan sehr viel bestimmender sein, als in der Vergangenheit. Mit dem Beitritt von Schweden und Finnland zur Nato werden nur noch wenige EU-Mitgliedstaaten – Österreich, Malta, Zypern – nicht zugleich Mitglied der Nato sein. Damit wird sich aber das Verhältnis von beiden Organisationen verändern, vor allem unter dem Druck des Krieges in der Ukraine. Europa wird seine militärischen Verteidigungsanstrengungen erheblich steigern müssen und damit zugleich auch den europäischen Pfeiler in der Nato stärken, was dringend notwendig ist.

Weite Grauzone

Geopolitisch wird die EU sehr viel mehr gefordert werden, wie die Beitrittsanträge der Ukraine, Georgiens und Moldawiens zeigen. Bisher war das einzige geopolitische Instrument der EU das Beitritts- und Wohlstandsversprechen mittels einer Vollmitgliedschaft, das sich aber schon gegenüber der Türkei und dem westlichen Balkan als illusionär erwiesen hat. Bleibt es bei den gegenwärtigen Strukturen der EU, so wird diese geopolitisch ihre Interessen nicht oder nur sehr eingeschränkt wahrnehmen können. Was die EU von morgen daher brauchen wird, ist eine sehr viel flexiblere Struktur, gewissermaßen ein konföderatives Umfeld vor dem föderalen Kern. Gemeinsamer Markt, Sicherheit, Rechtsgemeinschaft, Währung, et cetera und nicht die Vollmitgliedschaft oder nichts.

Die EU kann sich nicht endlos ausdehnen, aber zugleich reichen ihre geopolitischen Interessen sehr viel weiter als das Instrument der Vollmitgliedschaft. Brüssel wird mehr und mehr zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alternative auf dem europäischen Kontinent, solange die Bedrohung durch autoritäre Regimes anhält, und das heißt wegen der fließenden Grenzen zu Asien auch in eine weite Grauzone hinein. Eine neue Flexibilität in den Strukturen, muss deshalb die Antwort lauten, und nicht das Festhalten an alten, überforderten oder an unerfüllbaren Versprechungen. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 26.5. 2022)