Ein bodenlanger Spitzenvorhang bewegt sich leicht in der Brise, die durch das Fenster eines prunkvoll ausgestatteten Zimmers hereinweht. Mit einer subtilen Handbewegung streicht ein Mann im Anzug die Stoffbahn zur Seite, dazu erklingt Orchestermusik. Die Kamera zoomt näher heran, der Anzugträger schaut nach draußen. Wem oder was er wohl entgegenblickt? Einem Wagnis – so viel steht fest.

Ein großes Medienecho löst Van der Bellens erster Clip, unterlegt mit dem Klassiker "Should I Stay or Should I Go" von The Clash, aus.
Foto: Screenshot/Tiktok

Der Mann im Anzug ist Österreichs aktueller und womöglich auch künftiger Bundespräsident Alexander Van der Bellen, die besagte Szene auf Tiktok zu sehen. "When you just announced you are running for president again and you are getting ready for Tiktok", lautet der Begleittext. Spätestens, als der 19 Sekunden kurze Clip am Dienstag online ging, war klar: Die Videoplattform wird eine zentrale Rolle in Van der Bellens Kampagne spielen – und Österreich seinen ersten Tiktok-Wahlkampf erleben. Darüber sind sich Experten einig.

Van der Bellens Team geht damit in zweierlei Hinsicht ein Risiko ein. Erstens, weil Tiktok generell in der politischen Kommunikation und speziell in der Wahlwerbung bisher kaum erprobt ist. Und zweitens, weil das soziale Netzwerk das komplette Gegenteil des 78-Jährigen selbst ist. Tiktok ist laut. Schrill. Und ziemlich schnell. In jener Zeit, die das Lesen dieses Textes bisher in Anspruch genommen hat, hätten Sie drei Tiktok-Clips anschauen können. Wozu also das Ganze?

Mit Challenges zum Erfolg

In Van der Bellens Wahlkampfteam erklärt man den Gang in die Welt der Tanzvideos und skurrilen Challenges ad hoc so: Man habe bereits 2016, als Van der Bellen seine Kandidatur per Video publik machte, neue Maßstäbe gesetzt. "Diese Innovationslinie möchten wir fortführen, und deshalb setzen wir auf Tiktok", sagt ein Sprecher. Seine zweite, wohl triftigere Begründung: "Die Jugend und Van der Bellen – das war immer eine ganz besondere Beziehung. Viele junge Menschen finden ihn toll. Diese erreicht man über Tiktok, das ist eine Tatsache." Die Zahlen geben dieser Argumentation recht. Einer Schätzung der Wiener Social-Media-Agentur Buzzvalue zufolge hat Tiktok in Österreich derzeit 1,5 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer, bis Jahresende könnten es sogar zwei Millionen werden. Zum Vergleich: Facebook zählt hierzulande mehr als fünf Millionen aktive Accounts, Instagram rund 3,5 Millionen, Twitter nur 160.000. "Damit ist Tiktok eines der großen sozialen Netzwerke. Mehr als zwei Drittel der Userinnen und User sind jünger als 24 Jahre. Man fischt dort im Teich der Jungen", sagt Buzzvalue-Chef Markus Zimmer.

"Das Internet auf Steroiden"

Genau diese junge Generation ist es, die sich nur schwer für eine Bundespräsidentschaftswahl begeistern lässt, sagt Stefan Sengl, der einst die Wiederwahl von Ex-Präsident Heinz Fischer managte: "Mit Zeitungsinseraten erreicht man da gar nichts." Auf Tiktok habe Van der Bellen die Chance, Grünen-affine Jugendliche direkt anzusprechen. Und es stehe ihm gerade als älterem Kandidaten sehr gut an, auf neue Trends aufzuspringen, "damit nicht alles fad und langweilig daherkommt".

Relativ unspektakulär verblieb Van der Bellens zweiter Versuch auf Tiktok: Dieser geht nicht über einen Zusammenschnitt eines längeren Youtube-Videos hinaus.
Foto: Screenshot/Tiktok

In der jungen Zielgruppe seien auf Tiktok zudem mit relativ wenig Budget hohe Reichweiten und viele Interaktionen zu erlangen, sagt Agenturchef Zimmer. Das liege an den Algorithmen. "Auf Facebook und Instagram muss ich viel Geld in die Hand nehmen, damit meine Fans meine Inhalte überhaupt angezeigt bekommen", sagt Zimmer. Auf Facebook betrage die organische Reichweite – also die Zahl der Nutzenden, die quasi auf natürlichem Weg Beiträge von abonnierten Accounts sehen – nur fünf Prozent. Wer zahle, könne diesen Wert erhöhen. Auf Tiktok sei die organische Reichweite von vornherein höher und das Netzwerk so für die Politik attraktiv.

Ein Diskontkanal ist Tiktok dennoch nicht. "Wenn man Tiktok kanaladäquat betreibt, ist das ressourcenintensiv", sagt Kampagnenexperte Yussi Pick von "P&B Agentur für Kommunikation". Kanaladäquat heißt: Die Clips sind meist eine, nur 15 Sekunden kurze, Kombination aus Bewegtbild, Text und Ton, der Schnittrhythmus ist schnell und die Ästhetik weniger "clean" als jene von Wahlkampfvideos, wie Pick formuliert. "Tiktok ist das Internet auf Steroiden. Es folgt einer ganz spezifischen Kultur und Sprache." Für Politiker sei es entscheidend, die eigene Botschaft in diese Sprache zu übersetzen.

Droht noch mehr Zuspitzung?

Dabei begeben sich Wahlwerbende allerdings auf einen schmalen Grat. Wenn sich Ältere auf einer Teenie-Plattform versuchen, könne das schnell – um im Tiktok-Jargon zu bleiben – "cringe" werden, sagen Experten übereinstimmend. "Das wird ein Balanceakt. Wenn er gelingt, wird er aber umso beeindruckender gelingen", sagt Jakob-Moritz Eberl, Kommunikationsforscher an der Uni Wien.

"Es geht nach wie vor um Authentizität und weniger darum, jemanden in ein Clownkostüm zu zwingen", erklärt auch Lukas Holter. Der 30-Jährige ist Geschäftsführer des Campaigning Bureau, das unter anderem Kampagnen für Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP) managte. Holter hat sich auf den Digitalwahlkampf spezialisiert. Aus seiner Sicht brauche es vor allem ein Team, dem ein Kandidat zutrauen kann, dass sein Bild, etwa auf Tiktok, nicht völlig zerrüttet werde. Gerade in Zeiten, in denen ständig ein Handy auf einen Kandidaten gerichtet sei, um laufend Beiträge zu liefern, die besondere Nähe vermitteln sollen.

Van der Bellens Team will jedenfalls mit Fingerspitzengefühl vorgehen: "Ich bin mir sicher, dass er nicht auf Tiktok tanzen wird", sagt ein Sprecher. "Er ist Kandidat, aber auch amtierendes Staatsoberhaupt. Wir werden die Würde des Amts wahren."

In seinem dritten Tiktok-Video stellt sich der amtierende Präsident in die Tradition von Luke Skywalker.
Foto: Screenshot/Youtube

Heikel ist politische Kommunikation auf Tiktok auch aus anderen Gründen. Fragwürdiger Datenschutz durch den chinesischen Betreiberkonzern Bytedance, Fake News und die Bildung von Filterblasen betreffen die Videoplattform genauso wie ihre Konkurrenznetzwerke. Und der politische Diskurs? Drohen noch mehr Zuspitzung und Verknappung, wenn in 15-Sekunden-Clips kommuniziert wird? Kampagnenexperte Pick sieht diese Gefahr nicht. "Die positive Sichtweise dazu ist, dass es nun eine Plattform gibt, auf der es möglich ist, politische Botschaften unterzubringen, auch wenn die Aufmerksamkeitsspanne kurz ist." Aus der Wissenschaft gibt es dazu noch keine Antworten, denn die Forschung zu Tiktok steht noch ganz am Anfang. Eine Prognose auf Basis des Wissens über andere soziale Medien traut sich Kommunikationsforscher Eberl aber zu: Es sei bekannt, dass soziale Netzwerke bei der Mobilisierung helfen. Das sei auch Tiktok zuzutrauen.

Von einem anderen Planeten

Abgesehen davon birgt die Videoplattform aus der Sicht Wahlwerbender noch einen entscheidenden Vorteil: Man bringt sich ins Gespräch, zum Beispiel in traditionellen Medien – ein sogenannter Spill-over-Effekt, wie Eberl erklärt. Pick formuliert es so: "Van der Bellens Kandidatur war keine Überraschung. Er musste dem Publikum etwas geben, worüber es reden kann." Das ist ihm mit dem Start seiner Kampagne gelungen. Bereits sein erstes Tiktok-Video, mit dem er seine Kandidatur bloß andeutete, löste gehöriges Echo aus.

Stand Ende Mai hat Van der Bellen mehr als 7578 Fans auf Tikok, seine drei bisher veröffentlichten Videos wurden mehr als 2200 Mal kommentiert. Mit besagtem Vorhangvideo scheinen die Plattform und er richtig zueinandergefunden zu haben. Star Wars-Fans erkennen die Orchestermusik im Hintergrund als das "Force Theme", jene Melodie, die zum popkulturellen Symbol für Aufbruch, Hoffnung, aber auch Ungewissheit geworden ist: Sie erklingt in Episode IV, als Luke Skywalker auf dem Wüstenplaneten Tatooine in den Horizont blickt und von der weiten Welt träumt. Van der Bellens Aufbruch ins Tiktok-Universum spielt auf diese Szene an – und benutzt ein Stilmittel, das auf der Videoplattform das Überleben sichern kann: Selbstironie. (Stefanie Rachbauer, Jan Michael Marchart, 29.5.2022)