Was täten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union nur ohne Viktor Orbán? Der Rechtspopulist gibt in der Gemeinschaft stets den Bösewicht, der mit Veto droht, wann immer es um Entscheidungen zu heiklen politischen und wirtschaftlichen Projekten geht, die der Einstimmigkeit aller Staaten bedürfen.

In dieser Rolle als antieuropäischer Nationalist hat sich der ungarische Premier fast lustvoll eingerichtet. Seit die Briten aus der EU ausgetreten sind, stört er die EU-Gipfel praktisch im Alleingang, deckt seine Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu, um sich am Ende seine Interessen abkaufen zu lassen.

In der Rolle als antieuropäischer Nationalist hat sich der ungarische Premier Viktor Orbán eingerichtet.
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Für alle anderen Staatenvertreter ist das praktisch: Es lenkt ab. Sie können sich hinter dem lauten Orbán leicht verstecken, ihre eigenen nationalen Interessen kaschieren, die gemeinsame europäische Strategie unterlaufen.

So entsteht der Eindruck: Die EU ist im Verhältnis zu Russland einig wie nie, wenn nur der böse Orbán nicht wäre. Nach drei Monaten des russischen Abnützungskrieges in der Ukraine, der die Talfahrt der europäischen Wirtschaft gefährlich beschleunigt hat, lässt sich aber sagen: Der Schein trügt.

Nach breiter Solidarität mit der Ukraine wächst in vielen EU-Staaten in der Bevölkerung die Sorge vor dem sozialen Abstieg. Stichworte: hohe Inflation, explodierende Strom- und Gasrechnungen. Das bleibt politisch nicht ohne Folgen. Die Front gegen das Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist längst nicht mehr so einheitlich wie zu Beginn des Krieges.

Schwach in der Aktion

Die Überzeugung, dass Putin allein durch Wirtschaftssanktionen zum Einlenken, gar zum Rückzug gezwungen werden könnte, bekommt erste Risse. Es rächt sich, dass alle EU-Länder sowie die USA und die Nato kategorisch ausgeschlossen haben, selbst militärisch in der Ukraine einzugreifen. Nun wachsen die Zweifel, wie man den Konflikt je beenden könnte. Nicht ganz unähnlich war es zu Beginn des Syrienkrieges vor zehn Jahren. Die EU war stark im Bewerten und Verurteilen, aber schwach in der Aktion.

Der Streit um das jüngste Paket von EU-Sanktionen gegen Russland ist dafür symptomatisch. Seit die Kommission vor vier Wochen ein totales Ölembargo vorgeschlagen hat, scheint sich nur Orbán dagegen ausgesprochen zu haben. Ein Kompromiss sieht nun vor, dass der Bann zunächst nur für russische Ölexporte via Schiff gelten soll, nicht aber über eine Pipeline nach Europa, an der – erraten! – auch Ungarn hängt.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Siehe da, auch Tschechien und die Slowakei waren in Orbáns Windschatten gegen ein zu rasches, totales Ölembargo. Griechenland legte sich quer, bis die Partner zugestanden, dass griechische Reeder sehr wohl russisches Öl transportieren dürfen – wenn auch nicht in den EU-Raum. Nun kommt Polen, der Hardliner bei Sanktionen gegen das Putin-Regime: Es will zusätzliche EU-Gelder, weil es wegen der Energiekrise den Ausstieg aus der Kohle nicht wie vereinbart schafft. Die Atomgroßmacht Frankreich will hingegen den Versuch verstärken, mit Putin zu verhandeln. Zypern, Italien und Österreich sehen das ähnlich.

So ließe sich der Reigen der Eigen- und Spezialinteressen quer durch die 27 EU-Staaten weiterverfolgen, die auf eines hindeuten: Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto stärker wird der Wunsch der Europäer nach einem Ende der Konfrontationen. Und desto schwieriger wird es, die Einheit zu wahren. (Thomas Mayer, 30.5.2022)