Politikwissenschafter und Russland-Experte Gerhard Mangott sieht im Gastkommentar den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als strategischen Fehler auf Kosten der eigenen Bevölkerung an.

Mehr als 100 Tage dauert bereits sein Angriffskrieg gegen die Ukraine: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Foto: Imago / Mikhail Klimentyev

Russland sei nur eine Regionalmacht, meinte US-Präsident Barack Obama 2014 abschätzig; wissend, damitden russischen Präsidenten Wladimir Putin zu ärgern. Denn Putin, wie weite Teile der russischen Elite und Bevölkerung, sehen sich als Großmacht, meinen sogar, dass dem Land ein historisches Recht erwachsen sei, eine Großmacht zu sein. Der Anspruch, Großmacht zu sein, ist auch unabdingbar für diesen Status. Wichtiger aber sind die materielle Grundlage und die Rollenzuschreibung durch andere.

Verfügt Russland denn über die notwendigen materiellen Grundlagen für den Anspruch, eine Großmacht zu sein?

Russland ist eine militärische Großmacht, zumindest im nuklearen Sektor. Russland verfügt weltweit über die meisten nuklearen Sprengköpfe, mehr noch als die USA. Das nukleare Arsenal wurde weitreichend modernisiert, neue nukleare Waffen wurden geschaffen. Nuklearwaffen dienen aber der Abschreckung und sind keine Waffen, mit denen Kriege geführt werden (sollten). Nichts deutet darauf hin, dass Russland dies anders sieht.

Militärische Schlagkraft

Lange schien es auch, als ob die 2009 mit hohem finanziellem Aufwand vorangetriebene Modernisierung auch die konventionelle militärische Schlagkraft erhöht hätte. Die Streitkräfte haben eine Sollstärke von 900.000 Soldaten. Der Krieg in der Ukraine hat die konventionellen russischen Streitkräfte aber deutlich entzaubert. Einen konventionellen Krieg gegen die Nato würde Russland zweifellos verlieren.

Russland ist, nach den USA, auch der zweitstärkste Exporteur von militärischer Rüstung. Das ist für die russische Rüstungsindustrie nicht nur lukrativ, sondern verschafft auch politische Einflussmöglichkeiten in den Abnehmerländern.

Antiquiertes Verständnis

Der Status einer Militärmacht wird im russischen Denken aber traditionell mit dem Status einer Großmacht gleichgesetzt. Das ist ein antiquiertes Verständnis. Großmacht zu sein erschöpft sich nicht nur in militärischer Macht, sondern erfordert Kraft auch in anderen Bereichen. Ist Russland denn auch eine wirtschaftliche Großmacht?

Wenn man die Kaufkraft berücksichtigt, machte die russische Volkswirtschaft vor der Pandemie 2,92 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes aus. Das ist ein Fünftel der Wirtschaftsleistung der USA und ein Sechstel des BIP Chinas. Trotz der natürlich zu berücksichtigenden unterschiedlichen Bevölkerungszahlen fehlt Russland relativ zu den anderen Großmächten Wirtschafts- und Finanzkraft.

Latente Macht

Russland fehlt überhaupt vieles an "latenter Macht", wozu unter anderem Wirtschaftsleistung, technologische Innovation und Währungsrelevanz zählt. Russlands Wirtschaft ist, solange sie sich vor allem auf Energie- und Metallexporte stützt, weiterhin anfällig für externe Schocks: Fallen die Nachfrage und der Preis, belastet dies den Staatshaushalt enorm. Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat sich die russische Führung entschlossen, Russland ärmer zu machen. Die immensen Folgekosten der westlichen Sanktionen werden die russische Wirtschaft um Jahrzehnte zurückwerfen.

Politisch ist Russland zweifellos eine Großmacht. Das stützt sich vor allem auf den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht, also auf institutionalisierte Macht. Nicht nur, aber eben auch Russland nützt dieses Vetorecht sehr häufig. Bisweilen hat der Westen den Sicherheitsrat bei Militäroperationen umgangen (Jugoslawien 1999, Irak 2003), sodass auch diese Gestaltungsmacht Russlands grundsätzlich brüchig ist. Dazu kommt, dass Russland durch seine militärische Aggression viel an Ansehen und Gestaltungsmacht in internationalen Institutionen verloren hat.

"Offenbar ist es auch unser Los: zurückzuholen und zu stärken." Wladimir Putin zieht Parallelen zu Zar Peter I.

Neben der materiellen gibt es aber auch immaterielle Macht. Russland besitzt weiche Macht. Russische Sprache, Kultur und Literatur sind Faktoren für das Ansehen Russlands. Das gilt nicht nur für die "russische Welt", das heißt den russischsprachigen Menschen, sondern auch darüber hinaus. Das globale Ansehen Russlands aber ist recht niedrig und ist laut Brand Finance Global Soft Power Index 2022 durch den Aggressionskrieg gegen die Ukraine noch um ein Fünftel weiter abgesunken.

Die materiellen Grundlagen für den russischen Großmachtanspruch sind insgesamt außerhalb des militärischen Sektors recht bescheiden. Der Angriffskrieg Russlands war aus strategischer Sicht daher ein Fehler. Nicht nur werden die westlichen Wirtschafts- und Finanzsanktionen die Entwicklung der russischen Wirtschaft außerordentlich belasten; der Waffengang wird auch die konventionelle militärische Macht deutlich schwächen. Es wird mindestens ein Jahrzehnt brauchen, bis Russland seine militärische Stärke an Waffen und Truppenstärke wiederaufgebaut haben wird.

Nachhaltig schwächen

Der Verteidigungsminister der USA Lloyd Austin hat vor einigen Wochen auch offen ausgesprochen, dass es das Ziel der Unterstützung der Ukraine ist, Russland nachhaltig zu schwächen – und Russland zu einem derartigen Angriffskrieg auf lange Sicht nicht mehr in der Lage sein wird. Russland als geschwächte Macht ist das Ziel der USA in diesem Krieg. Viele Kommentatoren sprechen auch davon, dass Russland nicht nur besiegt, sondern auch gedemütigt werden solle.

Im Großmächtewettbewerb hat Russland an Boden verloren. Der Krieg hat es den USA ermöglicht, einen Wettbewerber deutlich zu schwächen, ohne auch nur einen einzigen US-Soldaten einsetzen zu müssen. Russland verliert aber auch an Spielraum gegenüber China, von dem es in den nächsten Jahren noch deutlich abhängiger sein wird als bislang schon. Ob sich die polyzentrische Welt ausbilden will, die sich die russische Elite wünscht – mit einem starken russischen Pol –, ist nicht sicher. Vielleicht wird Russland reduziert auf den Status einer "Swing Power" in einer neuen bipolaren Konstellation zwischen den USA und China.

Jedenfalls besteht in Russland zwischen dem Anspruch, eine Großmacht zu sein, und der Wirklichkeit eine große Lücke. (Gerhard Mangott, 13.6.2022)