Seit bald 200 Tagen sitzt Karl Nehammer im Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz; vor einem Monat noch wurde er unter großem Beifall zum ÖVP-Obmann gewählt. Doch die Lage ist trist in der ehemals stärksten Partei des Landes.

So hatte Nehammer sich das gewiss nicht vorgestellt. Doch selbst in der ÖVP ist kaum jemandem nach Beschönigung: Gut läuft es nicht – weder für den Kanzler noch für die Partei. In sämtlichen Umfragen ist die Kanzlerpartei deutlich abgestürzt, die schwarz-grüne Koalition ist fern einer gemeinsamen Mehrheit.

Kanzler Karl Nehammer hat bald 200 Tage Amtszeit hinter sich – sie war mehr als turbulent.
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Gerade hat die Regierung ein großes Paket zur Entlastung der Bevölkerung in Zeiten der höchsten Inflation seit Jahrzehnten präsentiert. Die meisten Fachleute bewerten es als grundsätzlich positiv.

Politikexperten sind allerdings skeptisch, ob die Österreicherinnen und Österreicher es der Koalition auch danken werden. "Das Paket ist ein wichtiges Gegengift, das aber nicht lange anhalten wird", urteilt der Politikberater Thomas Hofer. Das liege weniger an Nehammer und seinem Tun als an der Situation selbst: Bei steigender Inflation, so eine politische Binsenweisheit, lässt sich als Regierung wenig gewinnen. Die Politik könne in erster Linie Abfederung betreiben.

Multiple Krisen

Es ist aber längst nicht nur das. Derzeit ist in politischen Talkshows häufig von "multiplen Krisen" die Rede. Zynisch könnte man behaupten: Die multipelste – und zum Teil hausgemachte – Krise erlebt der Kanzler selbst.

Inmitten der Pandemie hatte Nehammer die durch mutmaßliche Korruptionsskandale gebeutelte ÖVP übernommen. Seither: das Impfpflicht-Debakel, Cobra-Gate, die Affäre rund um den Vorarlberger Wirtschaftsbund, der "Förderskandal" in Oberösterreichs schwarzem Seniorenbund. Und dann noch die Stellungnahme des Rechnungshofs zum ÖVP-Rechenschaftsbericht für das Jahr 2019, die einer schallenden Ohrfeige gleichkommt.

Nehammer war damals ÖVP-Generalsekretär, also der zuständige Partei- und Wahlkampfmanager. Dazu kommt der seit Februar andauernde Krieg in Europa mit all seinen Folgen – und auch schwelt die Klimakrise weiter.

Szenario Kanzlertausch?

Ist es überhaupt möglich, all diese Problemfelder zeitgleich zu beackern? Was ist die Perspektive der ÖVP und ihres Chefs, des Kanzlers? Oder anders formuliert: Wie kommt die Volkspartei aus ihrer Negativspirale wieder heraus? Gibt es denn Auswege?

"Sehr schwierig", sagt der Politikberater Hofer nüchtern. Das Antiteuerungspaket sei zwar immerhin "ein Lebenszeichen der Koalition", aber die ÖVP befinde sich durch ihre Parteikrise inmitten einer "toxischen Mischung", wie er es nennt: "Viele Menschen haben das Gefühl, um ihr Auslangen zu kämpfen, während die Kanzlerpartei mit sich selbst beschäftigt ist."

Auch der Politikwissenschafter Peter Filzmaier ist wenig optimistisch: "Die Chancen auf einen Erfolg der ÖVP bei der nächsten Nationalratswahl stehen mäßig bis grottenschlecht", sagt er. Um eine Negativspirale zu durchbrechen, brauche es eine "gravierende Änderung". Die "Ultima Ratio" sei die Neugründung einer Partei inklusive eines weitreichenden Personalaustauschs – allerdings stellt die ÖVP mit Nehammer bereits den dritten Kanzler dieser Legislaturperiode.

"Wenn man ausschließlich strategische Überlegungen und Imagedaten heranzieht, müsste die ÖVP einen klaren Wechsel vornehmen", sagt Filzmaier. "Man müsste den beliebten Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher zum Parteichef und Kanzler machen." Der sei jedoch Quereinsteiger und nicht einmal Parteimitglied. "Das ist freilich ein völlig irreales Szenario vom Reißbrett", fügt der Politologe an. In der Logik der Partei würde das ohnehin nicht funktionieren.

Vier Landtagswahlen

Darüber hinaus stehen in den kommenden Monaten gleich vier Landtagswahlen an. Zuerst wählt Tirol, dann auch Niederösterreich, Salzburg und – das für die ÖVP weniger wichtige – Kärnten. "Verluste bei diesen Wahlen wird die ÖVP hinnehmen müssen. Denn es gibt kein Gegenkonzept", sagt der Politologe Filzmaier.

Tirols Landeschef Günther Platter zieht sich überraschend zurück.
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Diese Erkenntnis ist wohl ein Mitgrund dafür, dass Tirols Landeshauptmann Günther Platter Anfang der Woche überraschend seinen Rückzug bekanntgab. Es war der zweite Abgang eines ÖVP-Urgesteins innerhalb weniger Wochen.

Zuvor hatte bereits der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer erklärt, den Posten an seinen Nachfolger zu übergeben – auch wenn diese Entscheidung weniger plötzlich kam. Die schwarze "Götterdämmerung" nannten das manche Kommentatoren. Ein Grüner ätzt: "Die Ratten verlassen das sinkende Schiff."

Aber was können die ÖVP und Nehammer nun tatsächlich tun? "Es gibt gewisse Dinge, die sollte die Volkspartei jetzt jedenfalls angehen", ist der Politikwissenschafter Filzmaier überzeugt. Während der Obmannschaft von Sebastian Kurz habe die Partei zwar ein Profil gehabt, aber vor allem durch Inszenierung und "Marketinggags". Nun müsse die ÖVP wieder eine große Erzählung dafür finden, wofür sie heute steht – auch wenn das wohl erst für die übernächste Wahl wieder etwas helfe.

Die große Erzählung

Nötig sei dafür eine Grundsatzdebatte über die Ausrichtung der Partei. "Diese große inhaltliche Erzählung sollte aber nicht in der ÖVP-Zentrale entwickelt werden, die Schaltstelle müsste die Parteiakademie sein", sagt Filzmaier.

Ein mögliches Thema sei, so der Politologe, eine "intelligente Wirtschaftserzählung". Der türkise Slogan "Leistung muss sich lohnen" funktioniere aktuell nur bedingt. Und insgesamt brauche es für eine erfolgreiche Erzählung ein "stimmiges Dreieck" aus den Komponenten: Thema, klarer Botschaft und einer geeigneten Person für die Vermittlung.

Nehammer habe vor allem beim Thema Sicherheit große Glaubwürdigkeit. Im Bereich der Wirtschaft sei das eher Martin Kocher. Wobei Filzmaier betont, dass er nicht glaube, die ÖVP werde nun wirklich einen großen inhaltlichen Prozess starten: "So etwas wird wohl frühestens gemacht, wenn die ÖVP wirklich auf der Oppositionsbank landet."

Oppositionelle Schwäche

Bei den Grünen befindet ein Stratege, dass man sich aus den Problemen der ÖVP nun möglichst raushalten müsse. "Wobei das natürlich nicht ganz leicht ist, weil wir auf den Pressekonferenzen immer neben ihnen stehen", wie er es formuliert. Weitermachen, möglichst viel umsetzen, so das ausgegebene Mantra. In grünen Regierungskreisen hört man jedenfalls auch: Einen weiteren Kanzlerwechsel würde diese Koalition nur schwer überstehen.

Ein "Spiel auf Zeit" erkennt Filzmaier auch bei der ÖVP. Trotz prognostizierter Verluste bei den Landtagswahlen werde die ÖVP schließlich mit größter Wahrscheinlichkeit die schwarzen Landeshauptmannsessel verteidigen. An Neuwahlen, wird in der Koalition betont, habe niemand Interesse.

Außerdem bleibt natürlich die Frage nach den Alternativen. "Die Regierung hat es wahrlich nicht mit einer übermächtigen Opposition zu tun", sagt Hofer. Die SPÖ sei zwar in Umfragen stark, jedoch "kaum aus eigener Stärke heraus". Das biete für Schwarz-Grün zumindest eine Chance, irgendwann auch wieder "in Vorlage" zu kommen. (Katharina Mittelstaedt, 18.6.2022)