"Ich will, dass Texte verstanden werden ohne Traditionslinien. Das ist mein Anspruch an Literatur", forderte Philipp Tingler. "Das ist eigentlich ein Armutszeugnis für Kritik", konterte Klaus Kastberger. Und was sagt Vea Kaiser? "Das muss man auch aushalten können, dass man mal mit einer Figur nichts anfangen kann." Schon recht früh am ersten Lesetag des heurigen Bachmannpreises war sich die Jury damit uneinig.

Anlass war "Die königliche Republik" von Hannes Stein. Der Autor lebt seit 2007 in New York und nennt sich "Spezialist für Weltuntergänge". Von einem solchen handelt auch sein Text. Ein schwarzer früherer Professor in New York ist mit seinem Buch über die polnisch-litauische Union vor Jahren in einen Skandal von links geraten. Der Vorwurf: Er habe den Kolonialismus schöngeredet. Er glaubt noch immer an deren Fortbestehen und sucht deshalb wie ein Verschwörungstheoretiker Geheimbotschaften in Glückskeksen und im TV.

Skurrilität als "Alarmsignal"

Für die Jury war der Text keineswegs aus einer untergegangenen Welt, sondern sehr heutig. Mit dem von Jurorin Insa Wilke ins Feld geführten "magischen Realismus" als Referenz für die Erzählung konnte Jury-Kollege Klaus Kastberger wenig anfangen. "Als Österreicher" liebe er das "Kauzige, Skurrile und Schräge" als Merkmale österreichischer Literatur. Er sah in dem Text einen starken Bezug auf die politischen Verhältnisse in den USA – das leiste ein skurriler Text viel besser als ein realistischer. Realismus hielt er infolge für "eine Ideologie der Zurichtung von Wirklichkeit". Tingler fand dagegen "kauzig ein gruseliges Alarmsignal" und den Text "ziemlich betulich" und wie "einen scherzenden ältlichen Verwandten".

Der Text liefere einen Gegenentwurf zum üblichen Selbstmitleid des einsamen Mannes, frohlockte die einladende Vea Kaiser, nämlich den Aufbau einer Gegenwelt. Ob das als "Lebensrat" tauge, wusste Insa Wille nicht. Die Behauptung des Textes, es gebe kein historisches Denken mehr, sondern nur noch moralische Kriterien, war ihr letztlich zu journalistisch. Das war aber nur der Auftakt zu einem Tag voller Texte über verlorene Männer. Sie kamen von vier Autoren. Die einzige Ausnahme lieferte Eva Sichelschmidt.

Abschied und "Kalendersprüche"

Die Autorin las "Der Körper meiner Großmutter" über eine Sterbende, das Abschiednehmen, Einsamkeit, Gebrechen, Schmerzmittel. Es geht auch um Erreichtes, Verlorenes. Zwei Frauen stehen dabei im Zentrum: Die Alte ist eigen, die Enkelin mürbe. "Essen als Ordnung, essen als Terror", lautet einer der originelleren Eindrücke, der Text kennt aber auch zahlreiche Plattitüden. Man einigte sich bald darauf, sie "Kalendersprüche" zu nennen. Diese fand Kastberger aber nicht klischeehaft, sondern ein "radikales Experiment". Brigitte Schwens-Harrant und Insa Wilke störten die Floskeln hingegen. "Wer anderes als ein deutscher Rechtsphilosoph würde erwarten, dass hier Sätze mit Wahrheitsgehalt über das Sterben gesprochen werden", verstand Kastberger Wilkes Einwände nicht.

Eva Sichelschmidt bei ihrer Lesung im Garten vor dem ORF-Landesstudio in Klagenfurt.
Foto: APA/GERD EGGENBERGER

War das alles aber nun eigentlich liebevoll gemeint? Daran zweifelte Michael Wiederstein. Für ihn klangen der Text und die beschriebene Person hohl und so, als sollten die Leser jemandem nur auf den Leim gehen, dass er um die Großmutter trauert. Mara Delius war vom Text hingegen sehr beeindruckt, wie er in Details die Geschichte der Bundesrepublik spiegelte. Zudem: Die "Schilderung eines Frauenkörpers haben wir auch nicht so häufig in der Literatur." Besonders nicht an diesem Tag.

Neurotischer Schauspieler

Autor Leon Engler stellte sich in seinem Vorstellungsvideo als Kärnten-Fan vor. Der Witz, mit dem er erklärte, "Klagenfurt ist so aufregend wie L.A. und Tokio", prägte auch seinen Text "Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten". Darin probt ein Schauspieler im Zug anhand der Spiegelung im Fenster sein Lachen, denkt über Erfolg, deutsche Städte, gelbe Zähne, Landmenschen und "die Person, die ich gerne wäre", nach. Neurotisch, hochtourig und ironisch fielen einem als Adjektive hierzu ein.

Nicht nur Wilke fand die Figur großartig, den Text witzig. Sie fand darin zudem eine religiöse Thematik, Bachmann-Zitate und Gemälde Arcimboldos wieder. Zugleich passiere darin etwas, er nehme die gegenwärtige Sprachlandschaft und Lifestylegesellschaft aufs Korn. Schwens-Harrant entgegnete, dass der Text zwar reflektiert sei, aber dennoch "aus einer bestimmten Blase spricht und darin bleibt". Auch für Kastberger wurde der Text in der Diskussion zu sehr hochgejazzt und war eigentlich mehr einer der von Anna Baar in der Eröffnungsrede kritisierten "Weißbrottexte aus der Backstube der Konvention".

Verloren in der Heimatlosigkeit

Stärker hätte der Kontrast nicht ausfallen können. Auch nach der Mittagspause ging es um Verlorenheit, aber erzählt mit ganz anderen Mitteln. Der rumänischstämmige Alexandru Bulucz näherte sich in einem mäandernden Text einer Migrationsbiografie: der Erinnerung an die Landschaft der Kindheit, von Kinderspielen, einem Feststecken in der Heimatlosigkeit, Selbsthass.

Alexandru Bulucz brachte sich mit seiner Lesung für einen Preis in Stellung.
Foto: ORF/Johannes Puch

Die Jury war sich so einig wie sonst nicht an diesem Tag, dass das ein guter Text war. Kaiser lobte an der Sprache "Assoziationen, Dekonstruktion von Phrasen, Neukontextualisierungen". Wilke freute sich über einen "Autor, der sich der Grammatik bewusst ist und komplexere syntaktische Gefüge formulieren kann" sowie den Konjunktiv II. Für Kastberger verfolgte der Text "andere Kohärenzstrategien als die Narration", nämlich lyrische. Tingler nannte das "hermetisch innerlich", und ihm fehlte "die Befassung mit der Welt in ihrer Tatsächlichkeit". Als würde man "zu einer Birne sagen, du interessierst mich nicht, weil du kein Apfel bist", wollte Kastberger Tinglers Einwände nicht gelten lassen. Dass man nur recht schwer in den Text hineinkommt, sei mit Schwens-Harrant trotzdem angemerkt.

Vater und Diskuswerfer

Damit hatte man bei Andreas Moster zum Tagesabschluss kein Problem. Er erzählte sehr plastisch von einem alleinerziehenden Vater und dessen Babytochter. Schlechtes Gewissen, Überforderung, Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf prägen die Geschichte. Denn das Kind drückt die Leistungsdaten des Sportlers, der sich auf Olympia vorbereitet.

Am meisten faszinierte die Jury daran der außerliterarische Faktor, dass hier zur Abwechslung einmal ein Mann mit Elternschaft hadert. "Auch Männer können verzichten", leitete Kaiser daraus ab. "Nur in einer Gesellschaft, in der wir nicht solche Geschichten lesen, ist das undenkbar." Insofern habe der Text "eine große politische Bedeutung". Bei Kastberger muss die offenbar erst noch Wirkung zeigen. "Ich glaube dem Text kein Wort, weil das für mich zu getrennte Welten sind", stellte der über die Verlinkung von Diskuswerfer und Vatersein fest. Ausgerechnet von den Jurorinnen wurde Moster verteidigt. Wiewohl auch sie überwiegend literarisch nicht überzeugt waren. Hätte eine Frau diesen Text geschrieben, hätte sie ihn konventionell gefunden, konstatierte Schwens-Harrant. Autorinnen hätten schon literarisch avanciertere Texte übers Hadern mit Elternschaft geschrieben. Dieser sei doch oft "sehr konventionell, nahe am Kitsch, romantisierend".

So startete der heurige Bachmann-Bewerb mit drei auf ihre jeweilige Art sehr aktuellen und zeitgenössischen Texten (Stein, Engler, Moster) sowie zweien, die zeitloser universale Themen anrissen (Sichelschmidt, Bulucz). Bulucz hat sich mit seiner Lesung ganz sicher für einen der Preise in Stellung gebracht. (wurm, 23.6.2022)