Ein Preisfavorit: Juan S. Guse.

Foto: ORF/Johannes Puch

Gesellschaftskritik hatte an den ersten beiden Lesetagen eher gefehlt. Im großen Stil kam sie aber zum Abschluss der bachmannpreis-Lesungen doch noch auf. Das Ende des lebenswerten Klimas, das Ende des alten weißen mächtigen Mannes, das Ende einer eitlen und neoliberalen sowie kompetitiven Gesellschaften wurden in den vier letzten Texten des heurigen Bewerbs beschworen.

Und wäre da nicht schon eine Gartenbühne gewesen, man hätte sie für Leona Stahlmann erfinden müssen! Im Schneidersitz auf einem Podest eröffnete sie den Tag mit einem Text über eine Jungmutter, die sich angesichts des neuen Lebens um den Ökokollaps sorgt. Der Meeresspiegel steigt, Hasen sterben aus. Braucht ein Kind eigentlich vier Jahreszeiten? Ein recht bemühter Text mit viel Zeigefingerfuchteln.

Die Jury überzeugte das großteils nicht. Eine lange Diskussion entstand und schuf ungewöhnliche Allianzen: Philipp Tingler fand den Text "das literarische Äquivalent von Fast Fashion" und ausgerichtet auf einen aktuellen Trend. Es sei "kitschreich" und erschöpfe sich in "Posen des Hinterfragens, der Rebellion". "Ich möchte mich Philipp Tingler in allen Punkten anschließen, erstaunlicherweise", musste Insa Wilke einräumen, nannte den Text auch "dekorativ und ungenau". Brigitte Schwens-Harrant fand ihn "direkt moralisch". Das fand Michael Wiederstein angesichts des aktuell austrocknenden Po-Deltas jedoch angebracht. Die Kritik nahm aber auch nach diesem Einwurf kein Ende: "Das ist mir zu wenig realistisch und zu schön gestorben", stellte Klaus Kastberger fest. Die Autorin schüttelte dazu im Garten den Kopf. "Es ist nicht Pathos, es ist nicht Leidenschaft, es ist Kitsch", blieb Wilke dabei. Eine "Instrumentalisierung, Erotisierung der Mutterschaft", stieß ihr auch auf, womit sie bei Vea Kaiser wiederum auf Unverständnis stieß, die den aufgebrachten geist der Hauptfigur als "Zustand des Wochenbetts" lobte.

Tropfen der Verunsicherung

Die ausgeloste Lesereihenfolge wollte es, dass man einen der bei Stahlmann ungenannten Weltzerstörer bei Clemens Bruno Gatzmaga kennenlernte. Ein Urintropfen in der Unterhose irritiert dessen Hauptfigur Schulze über die Maßen, schüttelt er doch immer so gewissenhaft ab! Von einem unsicheren Charakter, einem "Ohrfeigengesicht" erzählte dieser Text. Und "was wäre er ohne Elke", seine Frau? Und ohne die richtige Krawatte. Ergebnis war ein souveräner, letztlich aber zu geradliniger Gedankenstrom zwischen dem Aufstehen in der Früh und einem Auftritt vor der Presse, vor der er einen Fehler einräumen müsste.

Das Psychogramm des unsicheren Mächtigen war für die einen ein extrem gut komponierter und gelungener Text, "der sich endlich um die drängenden Probleme der Menschheit, nämlich die Körperflüssigkeiten des alten weißen Mannes kümmert" (Kastberger). Tingler fand allerdings den geschilderten Charakter zu eindeutig und dass man den Text "auch vor 30 Jahren schon hier hätte vortragen können". Ein Tesla statt eines Mercedes als Dienstwagen hätte ihn ambivalenter gemacht. Dass die Körperempfindungen und -flüssigkeiten der Mutter zuvor bei Stahlmann kritischer betrachtet worden waren als nun jene des Mannes, fand Kaiser problematisch. Es war für sie bezeichnend, dass der Körper einer Mutter abgetan worden sei als "Kennt man alles" – und die männliche Unterhose nun "einen Einblick in Gesellschaft gibt". Der Text sei höchst politisch, insistierte Schwens-Harrant: "Männer wie diese bringen ja mehr zum Einsturz als nur ihre Welt."

Hintersinniger Soziologenblick

"Die organisierte Auf- und Abwertung von Menschen durch Menschen" ist das aktuelle Forschungsgebiet des Soziologen Juan S. Guse. Passt irgendwie zum Bachmannpreis! In seinem Beitrag erzählte er von einer Forschungsexpedition im Taunus. Eine bisher isolierte Gruppe von Menschen wurde entdeckt. Wie konnte es das geben? Wer sind sie? Zu ihrer Erforschung hat sich ein Basislager aus Anthropologen und Literaturwissenschaftern gebildet. Dieses und dessen Arbeit beschreibt Guse hintersinnig, mit Witz und soziologischer Expertise.

Und begeisterte das Publikum wie die Jury. "Lifestyleszenerie mit eingespieltem Entsetzen", freute sich Wilke. Man lobte den Text trotz eminenten Gegenwartsbezugs als nicht moralisierend. Eine von Tingler bekrittelte Austauschbarkeit oder Plattheit in der Figurenzeichung war für andere geradezu symptomatisch kennzeichnend für gegenwärtige Strukturen. Wiederstein erkannte gar die Situation in Klagenfurt im Text wieder: "Wir ziehen da los mit frisch gekauften Schuhen und versuchen die Nackten zu entdecken". Kastberger sah hingegen lieber eine Gesellschaft an ihrem Ende sich selbst entlarven und aus dem Weg schaffen. Seine Deutung verlieh dem Text noch einmal mehr Tiefe. Damit ist Guse ein großer Favorit für den morgen vergebenen Hauptpreis. Sollte es damit nichts werden, hat Kaiser hier immerhin den "besten letzten Satz in der Geschichte des Bachmannwettbewerbs" gehört: "Noch nie hatte sie eine solche Angst vor einer Stange Toblerone."

Schwul oder nicht

Und noch einmal bewies das Los der Lesereihenfolge Humor: Ein Essenslieferant ist verunglückt, Martha denkt aber nur an ihre Sommerrollen in dessen Rucksack. Eine nicht genauer definierte Erzählfigur schreibt währenddessen im Akkord Artikel über traurige Promitrennungen und rätselhafte Ufo-Sichtungen. Elias Hirschl kontrastierte in seinem Text mit abgeklärtem Humor die Visionäre der notorisch gutgelaunten Gig-Economy mit den Ausgebeuteten des digitalen Prekariats sowie den "Staublungen" früherer Bergwerksarbeiter.

Die Jury fand den Text insgesamt okay, aber nicht so gut wie das Publikum im ORF-Garten. Er war ihr großteils einfach zu lang. Was der Text sagen wollte, hatte sich für sie schon vor seinem Ende erschöpft. Auch Tingler hatte die "eindeutige Botschaft" schnell erkannt "und dann muss ich nicht noch mehr Phrasen hören. Es wir dann ermüdend". Das für Delius "extrem lakonisch" vorgetragene, dadurch nicht moralisierende und "beeindruckende Spiel mit Floskeln" der Gig-Economy war für Wiederstein hingegen "eigentlich eine Untertreibung". Er kennt von Peter Thiel und anderen Vertretern der Start-up-Szene schon "Lustigeres". Für Tingler wurde der Text damit schon von der Realität überholt. Offen blieb die Frage, ob der erzählte Sex mit dem realitätsverweigernden Start-up-Visionär hetero oder schwul war. Tingler identifizierte die Erzähl-Stimme jedenfalls als weiblich, denn "sie ist auf Tinder. Wenn sie ein Mann wäre, wäre sie auf Grindr." (wurm, 25.6.2022)